Es
geht zu Ende. Alle Schmerzen fallen plötzlich von mir ab. Ein langer, dunkler
Tunnel. Dahinter ein gleißendes Licht. Ich strebe dem Licht entgegen,
will in das Licht. In dem strahlenden Weiß warten freundliche Geschöpfe auf
mich. Sie jubilieren und winken mir zu. Als ich endlich in das leuchtende Hell
eintauche, applaudieren sie. Ich habe es geschafft und die Autobahnunterführung
hinter mir gelassen. Die Zielgerade des Königsforst-Marathons 2014 ist
erreicht!

Aus
Naturschutzgründen stand es auf der Kippe, ob die Veranstaltung überhaupt noch
durchgeführt werden kann. Mit strengen Auflagen und einem neuen Ausrichter
gelingt es. Und so wird die 40. Durchführung gleichzeitig einen Premiere.
Das macht sich schon bei der Anmeldung bemerkbar. Um 12 Uhr, der geplanten
Startzeit für Halbmarathon und Marathon, sind die langen Schlangen an der
Startnummernausgabe, die in einer Kfz-Halle der Bundesanstalt für Straßenwesen
untergebracht ist, noch nicht abgearbeitet.
Dort treffe ich auf Ralf, der heute die halbe Distanz hinter sich bringen möchte.
Wir wollen gemeinsam im 4:30er Schnitt laufen. Auch bei meinem Ratinger Rundlauf am 31.3. will Ralf mich begleiten. Und noch ein Bekannter klopft mir überraschend
auf die Schulter. Stefan aus dem Trailrunning-Camp hat den weiten Weg aus
Hessen auf sich genommen, um heute im Königsforst einen Halbmarathon zu laufen.
Klein ist die Läuferwelt!
Und groß ist das
Starterfeld. Man spricht von einem Teilnehmerrekord, bevor wir mit 10 Minuten
Verspätung auf die Strecke entlassen werden. Und gleich zu Beginn geht es
aufwärts. Ralf hat heute einen guten Tag und prescht los. Ich lasse ihn zwar
ziehen, bin aber mit 4:20 trotzdem zu schnell.
Zunächst geht es
wellig und asphaltiert neben einer Straße durch den Wald. Kurz vor km 4 ist die
erste Verpflegungsstation erreicht. Meine Frage nach Wasser wird mir mit: "Nur
Iso." beantwortet. Nur Iso bei einem Marathon? Ich trinke nichts. Zum Glück ist
es mit 11 Grad bei bedecktem Himmel nicht zu warm. Wenn der Wind nicht wäre,
könnte man von idealen Wetterbedingungen sprechen.
- Lauffreude bei einem Landschaftslauf
- erster Marathon in Minimal-Schuhen (NB MT10)
- neue Bestzeit
Leider plagt mich
seit gut zwei Wochen eine empfindliche Stelle unter dem linken Fuß.
Starrsinnigerweise will ich trotzdem wissen, ob meine Muskulatur inzwischen auch die Marathondistanz in Minimalschuhen bewältigen kann. Ein Test über 37 km
war recht gut verlaufen. Doch ab km 4 weicht der Asphalt kieseligem Waldboden.
Hin und wieder gerate ich genau mit der empfindlichen Stelle auf einen Stein.
Ein stechender Schmerz bohrt sich dann vom Fuß bis zum Kopf. Ich verfluche meine
Unvernunft und entwickle verschiedene Ausstiegsszenarien. Ich könnte nach der
Hälfte beenden und mit einer Halbmarathonurkunde nach Hause gehen. Der
Veranstalter bietet diese Option. Oder ich springe kurz in die Kfz-Halle, wo
ich meinen Kleiderbeutel unbeaufsichtigt stehen lassen habe, und wechsele die
Schuhe. Aber ich kenne mich. Nichts davon werde ich tun.
Zwei Fehler gehen
auf mein Konto. Ich bin zu schnell gestartet und habe mich für die falschen
Schuhe entschieden. Damit mache ich mir das Hauptziel, die Lauffreude beim
Landschaftslauf, selbst kaputt. Der Lauf ist von negativen Gedanken
geprägt. Der Fuß tut weh, und ich muss mir schon in der ersten Hälfte dabei
zusehen, wie ich langsamer werde. Lediglich das Überholen einbrechender
Halbmarathonis verschafft mir etwas Genugtuung.
Und es gibt kein
Wasser! An der zweiten Verpflegungsstelle nehme ich notgedrungen Iso. Die
dritte Versorgungsstation ist so ungünstig in einer Kurve platziert, dass ich
erst an den Mülleimern danach bemerke, dass es hier Getränke gegeben hätte. Es
scheint, dass das Betreiben der Labestellen komplett an den Arbeiter-Samariter-Bund
ausgegliedert wurde. Dadurch gibt es kein "Von-Läufern-Für-Läufer"-Engagement.
Wortlos stehen die Helfer mit den Händen in den Hosentaschen abseits ihrer
Tische. Erst bei der Halbmarathonmarke erlebe ich das übliche Szenario. Hier arbeiten
begeisterte Unterstützer und reichen den Aktiven die Becher in die Hand.
Erstmals höre ich den erlösenden Ruf: "Wasser!" und greife zum angenehm
temperierten Getränk.
Schlagartig wird es
leer auf der Strecke. Hinter mir ist niemand zu sehen. Vor mir läuft die
führende Frau. Als ich sie überhole, bin ich überrascht, dass sie geschminkt
unterwegs ist. Angesichts kaum vorhandener Zuschauer ist der Aufwand aus meiner
Sicht übertrieben. Sie fragt mich besorgt, ob ihre Konkurrentin folge. Und ich kann sie
beruhigen, sah ich jene doch beim Halbmarathon aussteigen.
Nun bin ich gänzlich
allein. Gelegentlich kann ich vor mir am Horizont einen Herrn in Rot wahrnehmen.
Unser Abstand bleibt aber konstant. Wieder an der ersten Verpflegungsstation,
erblicke ich jetzt erstaunt, dass dort nebeneinander zwei Tische stehen - einer sauber mit "Iso",
der andere mit "Wasser" beschriftet. Habe ich das vorhin übersehen, oder ist
hier inzwischen nachgebessert worden? Egal, dankbar trinke ich das Wasser. Dazu gönne ich mir
einen Gel-Chip. Zwar habe ich auch einen klassischen Gel-Beutel dabei, aber
keinen Appetit auf diesen klebrigen Schleim. Bereits jetzt ist mir etwas flau
im Magen, und der Chip wird heute meine einzige Nahrung unterwegs bleiben. Der
verschmähte Gel-Beutel rächt sich auf seine Weise. Er übergibt seinen Inhalt in
meine Hosentasche. Ach, was habe ich doch für einen süßen Po!
Waren während der
ersten Runde noch einige Zuschauer hier und da an der Strecke, so ist der Wald
jetzt leer gefegt. Auch der Hammermann scheint heute keine Zeit für mich zu
haben. Aber der linke Fuß ist Feuer, die rechte Wade Stein.
Ein Streckenposten
radelt zu seiner Station und begleitet mich ein Stück. Er hat viel Text,
erzählt mir von seinen gesundheitlichen Problemen und prahlt mit seinen
Bestzeiten. Das ist sehr beeindruckend, aber ich bin mir nicht sicher,
ob ich das ausgerechnet jetzt wirklich alles wissen will. Weglaufen ist jedenfalls keine
Option. Ich messe den langsamsten Kilometer des ganzen Laufes.
"Nur noch eine
Stunde!", mache ich mir Mut. Ungefähr 30000 Schritte werde ich bis ins Ziel getan
haben, die Hälfte davon mit dem linken Fuß. Ab km 30 werden die Schmerzen in
diesem schlimm - 4000malige Pein bis ins Ziel.
"Noch 20 Minuten,
das ist ein Klacks!", versuche ich mich zu überzeugen.
"Bloß noch eine
lächerliche Viertelstunde."
"Noch zehn Minuten?
Endspurt!"
Nach der Passage des
eingangs erwähnten Tunnels kann ich tatsächlich noch einmal richtig sprinten. Da
habe ich mich vorher wohl zu sehr geschont, wenn jetzt noch solche Reserven
vorhanden sind. Mit ihnen rette ich mich durch den Zielbogen, noch bevor die
Uhr auf 3:13 umspringt. Damit habe ich meine persönliche Bestzeit trotz dieser
welligen Strecke fast 3,5 Minuten nach unten korrigiert und komme unter den
ersten 7% ins Ziel.
Doch niemand hier hängt
mir dafür eine Medaille um den Hals. Dieses Manko gleichen meine Kinder
zuhause aus. Sie haben eine Medaille für mich gebastelt. Darauf haben sie
geschrieben: "Marathonheld Papa". Die Freude kehrt zu mir zurück.