Am Sonntagmorgen
halte ich Ausschau nach einem Schnellrestaurant. Hieß es doch, man könne sein
Auto im „Burgerland“ parken. Das gelobte Land entpuppt sich aber als
Rehaklinik, und nicht als Frikadellenbraterei. Der Name dürfte sich also eher
auf die schöne Gegend hier um Schloss Burg beziehen. Und dieses Burger Land werde
ich heute beim Wupperbergemarathon durchmessen.
Bei diesem
privaten Einladungslauf genügen uns grüne All-Inclusive-Armbänder, anstelle von
Startnummern. Im Preis von 15 Euro sind nicht nur üppige Verpflegungsstationen
inkludiert, sondern auch jede Menge Höhenmeter. Die neue Fenix wird 1548 davon
messen.
Alle Warnungen
von streckenerfahrenen Läufern in den Wind schreibend, habe ich mir eine
Zielzeit von unter vier Stunden vorgenommen. Und ich würde gern in die Top Ten
der 89 Teilnehmer laufen. Das Rennen lässt sich auch ganz vielversprechend
an. Das liegt allerdings daran, dass es zunächst bergab geht. Beim Aufstieg zum
Schloss Burg, wo andere die Seilbahn nehmen, wird mir klar, dass ich dieses
Tempo nicht bis ins Ziel durchhalten werde. Zwei Laufkollegen ziehen scheinbar mühelos vorbei.
Das Schöne an den
Hügeln ist ja, dass es irgendwo auch wieder runter gehen muss. Mein Vater
versuchte uns Kinder beim Wandern mit Till Eulenspiegel zu motivieren. Der habe
bergauf immer gelacht, weil er wusste, dass er bald wieder
hinunter laufen dürfe. Und so versuche ich mich in Eulenspiegel-Manier die
Hügel raufzulächeln. Bei dem heutigen Streckenprofil werde ich wohl mit Lachfalten ins Ziel kommen!
Höhenprofil Wupperbergemarathon |
Dann geht es
plötzlich – völlig atypisch – eben und asphaltiert dahin. Der Schritt, der
bisher gleichmässig hinter mir durch das Tal hallte, erhöht die Frequenz. Kurz
darauf taucht der Zwischenspurtler an meiner Seite auf, so dass wir fortan als
Duo die schmalen Pfade beschreiten können. Unsere gemeinschaftliche Plauderei
verändert für mich die Atmosphäre. Der Wettkampfgedanke weicht dem bewussten
Genuss der handverlesen schönen Strecke, die sich im hellen Sonnenlicht in
erstem Herbstbunt präsentiert. Ich übertreibe es gleich ein wenig mit dem
Aufsaugen der Aussicht und lege mich auf den Weg. Da es sich – mal wieder
– um einen steilen Anstieg handelt, falle ich nicht tief, sondern kann mich mit der Hand an der Wand vor mir abfangen.
Das kostet mich lediglich einen Fetzen Fingerkuppenhaut. Erstaunlich, wie viele felsige und wurzelige Passagen zu diesem Marathon
verbunden wurden. Und extrem oft auf den schmalen Pfaden, die der Trampelpfadläufer
neudeutsch gern Single-Trail nennt. Da der Blick besser auf den Boden gerichtet bleibt, will der Moment zum Uhr-Ablesen sorgfältig gewählt sein.
Spätestens zur Halbzeit müssen wir uns angesichts eines solchen Blickes eingestehen, dass das Vier-Stunden-Ziel viel zu ambitioniert war. Wir kämpfen uns leicht demotiviert nacheinander auf engem Steig durch ein mannshohes Blütenmeer aus Balsaminen. Mein Vordermann meint: "Das stinkt vielleicht übel, dieses Kraut." Darauf ich, direkt hinter ihm: "Also, ich rieche nur dich!"
Als wir uns mit
Anekdoten aus unserem Läuferleben gegenseitig die Laune wieder heben, wird klar, dass
mein Begleiter, obwohl am oberen Ende der gemeinsamen Altersklasse rangierend,
eine gute Dreiviertelstunde eher beim Rennsteiglauf-Supermarathon gefinisht
hat. „Da muss ich dich ja hier eigentlich locker abziehen!“, orakelt er, der hier in seinem Trainingsgelände unterwegs ist. Und
lange soll es auch nicht mehr dauern, bis ich anfange zu schwächeln.
Zwei unserer
Mitstreiter können wir noch gemeinsam überholen. Dann brennen meine hinteren
Oberschenkel beim Aufwärtslaufen so stark, dass ich am liebsten gehen möchte. Der VP bei km
25 rettet mich. Wir rasten, um uns dort zu laben. Ich habe noch bei keinem Lauf
ein so großes Angebot an frischem Obst gesehen. Bananen sind ja Standard. Aber
hier wird von A, wie Ananas, über Erdbeeren, Melonen und Weintrauben bis Z, wie
Zitrusfrucht, alles gereicht. Laut den Garmin-ermittelten Standzeiten werden
mich die Fressorgien an den sieben Stationen heute insgesamt sechs Minuten kosten. Das Burgerland gerät
mir zum Schlaraffenland!
Der Abstand zu
meinem Begleiter wird merklich größer. Ohne ihn noch warnen zu können, muss ich von Weitem mit ansehen, wie er einen
Abzweig verpasst. Kurz darauf habe ich ein Déjà-vu.
Mich überholt ein gutgelaunter Starter, der schon einmal am Anstieg zum Schloss
Burg an mir vorüberzog. Seltsam. Wie kann das sein? Wenig später hat mich auch
mein treuer Begleiter wieder eingeholt, nachdem er seinen Fehler bemerkte und
umkehrte. Gemeinsam erreichen wir den VP bei km 30, wo wir erfahren, dass "mein Déjà-vu"
der Drittplatzierte war, der sich verlaufen hatte, aber inzwischen Platz Drei zurückerobert hat. Wir lägen auf den Plätzen Fünf und Sechs, was wir erfreut zur
Kenntnis nehmen.
Bis zur nächsten
Versorgungsstation bei km 35 schleppe ich mich ein- und mühsam dahin. Dann
bessert sich die Laune wieder, denn nach einer Schleife von nur zwei Kilometern ist
diese Schlaraffenland-Stelle schon wieder erreicht. Danach ist es nicht mehr
weit bis ins Ziel.
In letzter Sekunde entdecke ich am Boden einen weiteren der kleinen gelben Pfeile aus biologisch abbaubarer Sprühkreide, die mir bisher zuverlässig den Weg wiesen. Ich werde nach links über eine Wiese geleitet, auf der ein paar Anwohner in der Sonne ruhen. Danach stehe ich ratlos an einer T-Kreuzung, an der ich keine Markierung entdecke. Links oder rechts? Hätte ich doch den Track auf die Uhr gespielt! Ich laufe zurück und frage die Sonnenanbeter, wohin die anderen gelaufen wären. "Links bergauf." Bergauf, das hätte ich mir ja denken können!
Die Uhr signalisiert, dass ich mit ein wenig Motivation noch unter 4:20 bleiben könnte. Ein paar einzelne Gehschritte sind aufwärts trotzdem nicht zu vermeiden. Immerhin kann ich mir für die beiden Fotografen noch ein Lächeln abringen. Wenn meine Familie solche Fotos sieht, denkt sie, das sei alles gar nicht so anstrengend und ist beruhigt. Das Publikum im Ziel scheint einen ähnlichen Eindruck zu gewinnen. Denn als ich dort als Sechster nach gut 4 Stunden und 19 Minuten einlaufe, schnappe ich den Satz auf: "Der sieht aus, als wäre er gerade erst losgelaufen."
*Foto: aufgenommen beim gemeinsamen Vorbereitungslauf 2014