"So kann ein 100-Kilometer-Lauf im bequemen persönlichen Tempo mit ausreichenden Pausen eine 'bekömmliche Strapaze' sein."
(Dr. med. Ernst van Aaken)
In Fröttstädt, dem Start- und Zielort des „Thüringen Ultra“ über
100 km und 2270 Hm, stehen mehr Zelte als Häuser! Das „Sportpark“ genannte
Wiesengelände gleicht einem Campingplatz. Mit Vereinsheim,
Imbissverkauf, überdachter Terrasse, Sanitärbereich, Sportplatz und Spielplatz bietet es alles, was Lauf- und Campingfreunde benötigen. Als ich am 4.7. gegen 20:30 Uhr dort eintreffe, finde ich zwischen
den ganzen Wohnmobilen, Zelten und Pkws kaum noch einen Stellplatz für mein kleines
Iglu-Zelt. Gut, dass einige gleich in den Kofferräumen ihrer Kombis schlafen.
Das spart Fläche!
Die Anmeldeformalitäten sind schnell erledigt. Den Chip gibt
es jedoch erst am nächsten Morgen. Stattdessen erhalte ich ein Faltblatt mit Informationen,
die ich gern in der Ausschreibung gelesen hätte. So bleibt mein Gutschein für
die Pasta-Party ungenutzt, da sie schon vorbei ist. Und auf die Möglichkeit,
etwas in Drop-Bags deponieren zu lassen, bin ich auch nicht vorbereitet.
Stattdessen führe ich meinen Laufrucksack mit, den ich angesichts der
Temperaturen von 32 Grad mit Trinkblase und –flaschen aufmunitioniert habe.
Viel kühler wird es in der Nacht auch nicht. Ich wälze mich
schwitzend von einer Seite auf die andere, ohne Schlaf zu finden. Gegen 23 Uhr
kommt der Platz vorerst zur Ruhe. Doch während der nächsten Stunden reisen
weitere Teilnehmer an. Immer wieder wird mein Zelt komplett durchleuchtet, wenn
ein Fahrzeug seinen Lichtkegel über den Platz schwenkt. Danach klappen Türen,
schwirren Stimmen. Da helfen auch die Ohrstöpsel wenig. Von mir aus könnten wir
besser gleich loslaufen. Doch ich muss mich bis 4 Uhr gedulden. Dann startet der Ultra-Lauf, den Werner Sonntag als "anspruchsvoll" klassifiziert und für den "Berglauferfahrung vorhanden sein" sollte. Jeder, der das Ziel erreicht, erhält ein Finisher-Shirt. Die darauf gedruckte Anzahl von Sternen repräsentiert, wie oft man schon den Lauf vollendet hat. Ich will mir heute meinen ersten Stern verdienen.
Im Morgengrauen werden wir auf die bestens markierte
Strecke geschickt. Der ausrichtende Verein trägt den Namen „Lauffeuer“ und hat
passenderweise die ersten Streckenmeter mit brennenden Holzstämmen beleuchtet.
Das Eintauchen in deren Wärmestrahlung gibt einen
Vorgeschmack auf die Tagestemperaturen, die heute auf 25 Grad steigen werden. Bis
Kilometer Zehn weisen rote Blinklichter den Weg, über dessen flachen Verlauf
ich erstaunt bin. „Ist ja ganz einfach hier im Vergleich zum Rennsteig“, denke
ich, ohne zu berücksichtigen, dass wir zunächst zu den Höhen des Thüringer
Waldes hinlaufen müssen. Das wird mir erst bewusst, als ich den Inselsberg am
Horizont aufragen sehe.
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Inselsberg im Morgengrauen |
Ich unterhalte mich mit einem Griechen, der einen Familienbesuch
in Deutschland mit einem Lauf verbindet. Eigentlich redet sein Smartphone am
meisten, denn Runtastatic vermeldet bei jedem Kilometer lautstark die Pace. Wir
sind mit ca. 6 min/km unterwegs und bremsen uns ein wenig, obwohl hier im
Flachen schneller gelaufen werden darf, um die spätere Geherei am Berg zu
kompensieren. Mir schwebt eine Durchschnitts-Pace von gut 7 min/km vor, mit der
ich etwa 12 h benötigen würde. Ein ganz heimliches Idealziel sind die 11:40 h,
die bei einer exakten 7er Pace auf der Uhr stünden. Doch ich halte es mit
Werner Sonntag, der gemahnt, auf der langen Strecke demütig zu sein, und besser
keine allzu ambitionierten Zeitziele zu definieren. Das scheint angesichts der
sommerlichen Witterung heute umso mehr angeraten.
Dann komme ich mit zwei Vertretern der schreibenden Zunft
ins Gespräch, das bis Kilometer Sechs bereits ein Themenspektrum von der Besiedelung
Amerikas bis zu Florian Silbereisen abdeckt. Was da wohl auf den kommenden 94
Kilometern noch diskutiert werden wird! Wir stellen uns scherzhaft die Aufgabe,
bis zum Ziel eine Abhandlung auszuarbeiten, die unsere Laufliebe im Sinne
Spinozas erklärt. Der Philosoph hatte definiert: "Liebe ist Freude, begleitet von der Idee der äußeren Ursache". So viel Spaß hatte ich beim Laufen schon lange nicht mehr.
Nachdem ich die beiden am ersten Verpflegungspunkt zurückgelassen habe, denke
ich noch mehrfach, wie sich wohl mein heutiger Lauf gestaltet hätte, wäre ich
bei den beiden Schöngeistern geblieben. Ob sie die gute Laune und das flüssige
Gespräch bis ins Ziel aufrecht halten können?
Mir kommt die gute Laune in den Zwanzigern abhanden, als sich schon zu diesem frühen Zeitpunkt Schmerzen in den Beinen einstellen. Geplant hatte ich das erst ab Kilometer 50. Bis dahin wollte ich locker dahintraben, anschließend die 66 vollenden, um mich dann durchs letzte Drittel zu beißen. Nun kommt es anders. Schon in der letzten - lauffreien - Woche hatten mich Krämpfe und Beinschmerzen geplagt, die ich mir nicht erklären konnte. Die Ursache ist nun auch egal. Jetzt muss ich damit umgehen. Und obwohl mein Tempo passt, muss ich konstatieren, dass heute nicht mein Tag ist. Es fällt mir zu früh zu schwer.
Irgendwann zieht ein älterer Läufer in einem Affenzahn an mir vorbei, so dass ich ihn zunächst für einen Staffelläufer halte. Später treffe ich ihn gehend an. Nach einem Blick zur Uhr rufe ich ihm zu: "Gleich haben wir die Hälfte!" Er läuft weiter: "Jetzt hast du mir wieder Mut gemacht!" Auch für mich ist die 50-km-Marke wichtig für den Kopf. Umso größer ist die Enttäuschung, als das Schild am nächsten Verpflegungspunkt (sonst gibt es keine km-Markierungen) erst 49 km ausweist, obwohl meine Uhr schon bei 52 km steht. Da mein "Forerunner 305", der im Vorjahr noch acht Stunden durchhielt, mittlerweile nur noch vier Stunden schafft, habe ich mir die
Aldi-GPS-Uhr meines Sohnes geborgt. Mit deren Meßgenauigkeit ist es wohl nicht so weit her. Dafür hält der Akku 16 Stunden. Ganz ausreizen möchte ich diese Fähigkeit heute aber nicht!
An den Verpflegungsstellen halte ich mich nicht lange auf, greife etwas Nahrung und nehme sie im Weitergehen zu mir. Meist trinke ich Wasser und Iso, später auch Cola und alkoholfreies Bier. Anfangs spreche ich den Käsebroten stark zu, kombiniert mit Banane in Salz oder Äpfeln. Später bekomme ich kaum noch etwas runter und versuche dann die Fruchtriegel. Ich habe jede Menge Gels bei mir. Doch kann ich mich schon nach dem zweiten nicht mehr motivieren, weitere runterzuekeln.
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Der Läufer im Roggen |
Und dann passiert es: Magenkrämpfe! Das Stechen im Bauch wird immer schlimmer, so dass ich kaum noch gehen kann. Was tun? Plötzlich fällt mir ein, dass ich eine ganze Zeit unterschwelligen Harndrang verspürt hatte. So genau ist das mittlerweile in dem Schmerzgemisch meines Körper nicht mehr auszumachen. Am Baum bin ich erstaunt, wie ergiebig dessen Bewässerung ausfällt. Und siehe da, die Entspannung lässt auch die Magenschmerzen verschwinden!
Beim morgendlichen Anziehen war ein Gummi der Gamaschen gerissen, so dass ich die Gaitors entnervt von den Beinen riss. Zweimal muss ich mich daher unterwegs setzen, um Steine aus den Schuhen zu schütten. Sonst mache ich keine Pausen. Gehpausen erlaube ich mir nur an den Verpflegungsstellen und am Berg, wobei die Definition von "Berg" über die Zeit immer mehr aufgeweicht wird. Beim Gehen stellen sich ungeahnte Motivatoren ein. Bremsen und Fliegen fangen an, mich zu piesacken, so dass ich jedesmal froh bin, wieder loslaufen zu können.
In den 70er Kilometern fragt mich eine Wandererin, wieviel Kilometer ich denn laufen würde. Die Antwort entlockt ihr: "Da braucht man aber viel Enthusiasmus!" "Bei mir lässt der gerade ganz schön zu wünschen übrig.", muss ich ihr entgegnen. Entsprechend gezeichnet scheine ich wohl auch auszusehen. Denn der nächste Passant glaubt, mir mit den Worten: "Halte durch! Du schaffst es bis ins Ziel!" Mut zusprechen zu müssen. Dabei habe ich nie Zweifel, das Ziel zu erreichen, strahle aber offenbar nicht gerade allzuviel Optimismus aus.
Einen mentalen Rückschlag erfahre ich am nächsten Verpflegungspunkt. Mein Uhr steht bei 83 km, doch dort hängt ein Transparent mit der Aufschrift: "Nur noch ein Halbmarathon!". Neuneinhalb Stunden bin ich jetzt auf den Beinen. Und immer noch ein Halber! Wie lange wird das noch dauern? Zweieinhalb Stunden? Drei? Ich weiß es nicht. Ich habe es satt. Ich will ankommen!
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Pralle Sonne und 25 Grad auf den letzten Kilometern |
Zum ersten und einzigen Mal falle ich auf flacher Strecke ins Gehen. Von hinten nahen schnelle Schritte. Und ein Ruf ertönt: "Komm weiter!" Ich denke: "Der Staffeläufer hat gut Reden." Da geht der Schnelle längsseits und stellt sich als Ultra heraus. "Komm weiter. Das ist alles nur in deinem Kopf. Dir tut gar nichts weh!", redet er mir gut zu. Ich ziere mich nicht länger und laufe mit. Und auf den letzten Kilometern werden Andreas, so stellt er sich vor, und ich zum Dream-Team. Wir lenken uns mit Geschichten aus dem Läuferleben ab oder benutzen einander als Klagemauer. "Du kannst ruhig schreiben: 'Der Typ hat die ganze Zeit nur gejammert!'" Doch Andreas hat für jeden anderen Läufer und jeden Helfer ein frohes Wort, wie auch immer es in seinem Inneren aussehen mag.
Fast stolpern wir über einen Läufer, der sich am Wegesrand selbst in stabiler Seitenlage abgelegt hat. Andreas versorgt ihn mit Gel und Getränk bis ein Helfer angeradelt kommt. Dann ziehen wir weiter. Dem Ziel entgegen. Doch erst erwartet uns der legendäre Kilometer 95, der mit seinen Thüringer Cheerleaders schon einmal Zielatmosphäre aufkommen lässt.
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VP bei km 95 |
Jetzt beginnt eine permanente Rechnerei. Schaffen wir es noch unter 12 Stunden? Das Ergebnis hängt stark davon ab, ob wir die Rest-Kilometer nach meiner Uhr, nach den Markierungen der Verpflegungsstellen oder nach dem nur 99 km langen Track von Andreas' Garmin berechnen. Zumindest zeigt der Garmin eine aktuelle Pace unter 7 Minuten an. Das passt immerhin.
Ultralaufen ist ein Seniorensport. Besonders deutlich wird das heute in der Frauenwertung. Dort läuft die jüngste Teilnehmerin in der W40. Und heute hat sich mehrfach gezeigt, dass Werner Sonntag mit seiner Aussage: "Die Frau ist ein Dauerleister" nicht ganz so falsch liegen kann. Mehrfach zogen Damen flott an mir vorüber. Und nun ist es schon wieder so weit. Das nimmt Andreas zum Anlass, mich voraus zu schicken: "Ich bin fertig, aber du kannst noch. Häng dich dran!" Ich gehorche artig und überhole die Dame sogar. Ein paar Minuten später stoße ich auf eine weitere flotte Frau, die jetzt auf den letzten Kilometern gehen muss. Ein Läufer dreht sich strahlend zu mir um und meint anerkennend: "Das hätte ich jetzt nicht mehr drauf!" Den letzten Verpflegungspunkt einen Kilometer vorm Ziel ignoriere ich. Bald darauf ist der Moderator schon zu hören. Ein Vorzielbogen, ein paar Zuschauer applaudieren, und dann bin ich da. Im Ziel! 100 km gefinisht! Unter 12 Stunden!
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Der erste Stern ist verdient! |