Mittwoch, 30. April 2014

Harzquerung 2014


Fehlstart


Der Tag beginnt mit einem Fehlstart. Hektisch treibe ich die Familie im Morgengrauen aus dem Osterferien-Quartier und halte kurz vor Beginn der Harzquerung meine Startnummer in den Händen. Die Zeit wird gerade noch reichen, um den Fußweg zum Start in der Salzbergstraße zurückzulegen. Aber wieso liegen die hier in der Turnhalle noch so entspannt in ihren Schlafsäcken? Ein Blick in die ausliegende Ausschreibung zeigt, dass wir eine Stunde zu früh erschienen sind! Die um eine Stunde zusätzlichen Urlaubsschlaf gebrachte Familie zeigt Größe und trägt es mit Fassung. Und ich gelobe, das nächste Mal ein Ferienhaus mit WLAN oder wenigstens innerhalb der Mobilfunknetzabdeckung zu buchen, wenn ich schon ohne ausgedruckte Ausschreibung in die Ferien fahre.

 Ich werde Erster!


Auf diese Weise werde ich beim heutigen Lauf der Erste. Der Erste, der seinen Zielbeutel auf den LKW lädt. Im mittlerweile an der Startlinie geparkten Auto ist nun genügend Zeit, die Ausschreibung in aller Ruhe zu studieren. Dass die Verpflegungspunkte 10 km auseinanderliegen, war mir vom letzten Jahr nicht mehr in Erinnerung. Angesichts des Wetterberichts, der für heute Sommer verspricht, werfe ich spontan den Trinkrucksack hinten auf. Da jetzt kein Leitungswasser mehr verfügbar ist, fülle ich „medium“ blubberndes Mineralwasser in die Trinkblase, was zu bemerkenswerten Effekten führen wird. 

 Ambitioniertes Vorhaben


Am Start fachsimpelt neben mir der Träger eines Trans-Gran-Canaria-Shirts mit einem Rennsteig-Nonstop-Finisher. Ich lausche ehrfürchtig, anstatt zu erkennen, dass ich mich eindeutig zu weit vorn aufgestellt haben muss! Aber ich will ja dieses Jahr schneller sein, als bei meinem Harzquerungs-Debüt im Vorjahr.

Zeitiges Kommen sichert die besten Plätze

Tschüss, Kohlenhydrate!


Unvermittelt knallt ein Schuss. Und sofort geht es steil bergauf. Vor uns liegen 300 Höhenmeter hinauf zur Zillierbach-Talsperre. Und schon jetzt wird teilweise gegangen! In meiner Erinnerung bin ich die letzte Harzquerung bis auf wenige Segmente am Poppenberg durchgelaufen. Habe ich die Gehstellen verdrängt? Oder bin ich heute nicht richtig fit? War der Wettkampf letzten Samstag zu viel? Hätte ich mich schonen sollen, anstatt am Montag den wunderbaren 24-km-Berglauf über Hannskühnenburg und Großen Knollen zu genießen? Solche negativen Gedanken bestimmen schon die ersten Kilometer. Und allen guten Vorsätzen zum Trotz, schießt mir der Puls an manchem Anstieg weit über die 80%, die ich mir als Maximum definiert hatte. Kohlenhydrate verbrennen, die ich heute noch vermissen werde.

Ein Experiment


Bis zur ersten Verpflegungsstelle erscheint mir der Rucksack als unnötiger Ballast. Die Bewegung hat einiges Kohlendioxid vom Wasser getrennt, so dass es bei jedem Schritt nervend plätschert. Ich trinke zunächst das Wasser des Veranstalters, das diesmal in herkömmlichen Einwegbechern gereicht wird. Die Impo-Tee-Tassen sieht man nur noch vereinzelt. Dazu nehme ich ein paar Apfelstücke, will ich doch heute der Empfehlung Werner Sonntags folgen und keine industriell verarbeiteten Lebensmittel zu mir nehmen. Also keine Gels, kein Iso und keine Cola. So sollen laut Sonntags Postulat die häufig bei Belastung auftretenden Magenbeschwerden verhindert werden. Ganz vertraue ich der These noch nicht und führe sicherheitshalber noch zwei Gel-Chips mit.

Tschüss, Bestzeit!


Bald hat sich die Pace über die Auf- und Abstiege bei 5:35 eingependelt. Doch ich spüre schon jetzt, dass ich damit wohl überzogen habe. Bestätigt wird dies in den zwanziger Kilometern. Jetzt überholen die disziplinierten Strategen, die anfangs mit ihren Kräften haushielten und die zweite Hälfte frisch angehen können. Ein Herr tänzelt auf dem Vorfuß an mir vorbei, ohne mit der Ferse den Boden zu berühren und widerlegt damit die Theorie, dass dieser Laufstil auf der Langstrecke ineffizient sei. Ineffizienter fühlt sich jedenfalls mein Vorankommen an. Besonders deprimierend ist der Moment, als sich seitlich ein ansehnliches Bäuchlein in mein Blickfeld schiebt und von seinem Besitzer flott an mir vorbei getragen wird. Mit einer Bestzeit wird es heute wohl eher nichts.

Schon seit den ersten Kilometern spüre ich einen Fremdkörper in der rechten Socke. Nun ist links die Gamasche an der Ferse hochgerutscht und hat dort dem Walde Einlass gewährt. „Das wird schöne Blasen geben!“, denke ich, ohne mir einen Stopp zum Schuhleeren zu gönnen. 

Naturerlebnis


Mein Landschaftsgenuss ist heute also etwas eingeschränkt, was weder an der Strecke noch am Wetter liegt. Die Sonne bescheint lange Bergab-Passagen auf schmalen Pfaden, Bachüberquerungen mit und ohne Brücken, von Wildschweinen durchwühlte Mooswege zwischen schattenspendenden Fichten, wurzelige Passagen und von jungen Buchen überwucherte Pfade. Das alles nehme ich dennoch bewusst und dankbar wahr. Nicht ganz so dankbar bin ich, wenn der Bewuchs so dicht ist, dass ich mir die Arme vors Gesicht halten muss, um es vor hineinpeitschenden Zweigen zu schützen. Die Harzquerung ist ein Naturerlebnis!

Tschüss, Herr Sonntag!


Nach der dritten Verpflegungsstelle am Sophienhof bei km 31, wo ich wieder bei Apfel, Banane und Wasser bleibe, muss ich feststellen, dass mir die folgende, lange Single-Trail-Abwärtspassage nicht so viel Freude wie im Vorjahr bringt. Nicht nur die Oberschenkel schmerzen, auch im Bauch breitet sich Unwohlsein aus. Ich schicke Herrn Sonntag in die Wüste und werfe einen Gel-Chip ein. Für das im Rucksack mitgeführte Wasser bin ich schon seit einer Weile dankbar. Und das leichte Prickeln der Kohlensäure erweist sich als äußerst angenehm, so dass ich erwäge, künftig immer „Medium“ einzufüllen.

Poppenberg


3 Stunden und 15 Minuten bin ich inzwischen unterwegs. Während ich mit einem normalen Marathon schon fertig wäre, wartet die eigentlich Herausforderung erst noch auf mich. In meinen kühnsten Träumen wollte ich diesmal den Poppenberg laufend bezwingen, nachdem er mir im letzten Jahr harmloser als befürchtet erschienen war. Stattdessen muss ich fast den ganzen Anstieg von 300 Höhenmetern gehend absolvieren. Durch die Umstellung auf den Ballengang bin ich dabei auch noch deutlich langsamer als die anderen Geher. Orthopädisch mag es sinnvoll gewesen sein, sich diese Gehtechnik anzueignen. Im Hinblick auf die Effizienz beim Ultra erweist sich der Wechsel heute als eher hinderlich. Dafür greifen die Trailroc-Schuhe in dem extremen Schlamm am zerfahrenen Hang, dass es eine wahre Freude ist, schlingerte ich doch im letzten Jahr noch mit Straßenlaufschuhen über den Harz.

Noch ein Abschied


Auf dem Gipfel, der auf dieser kilometerschildlosen Strecke den Kilometer 39 markiert, gönne ich mir endlich Iso. Doch das Zeug schmeckt wässrig und kaum süß. Der ersehnte Kick bleibt aus. Beim Weiterlaufen liegt die Pace schon knapp über einem 6er Schnitt. Noch habe ich Hoffnung, auf dem langen Bergab-Stück Zeit gutmachen zu können. Doch abwärts zeigt es sich, dass es mir geradeso gelingt, die Pace zu halten. Von einer Zielankunft vor Ablauf von 5 Stunden muss ich mich spätestens jetzt verabschieden. Nachdem das geklärt wurde, ist mir die Zeit egal und der Antrieb weg. „Es knackt nicht, wenn der Wille bricht.“, habe ich gerade in meinem Urlaubsbuch gelesen.

Badewetter


Beim 43-km-Verpflegungspunkt kippe ich Cola, Iso und Wasser hinunter. Zusammen mit dem Wasser aus meiner Trinkblase habe ich unterwegs ca. 2,5 Liter Flüssigkeit aufgenommen. Der nächste Toilettengang wird trotzdem erst sieben Stunden nach dem Start fällig sein. Einen Beitrag zum Flüssigkeitsverlust dürften die mittlerweile hohen Temperaturen leisten. Am letzten Verpflegungspunkt kommentiert das eine Helferin: „Heute ist doch Badewetter, und kein Wetter zum Laufen!“ Und im Auto von Frau Pulsmesser steht die Anzeige bei 24 Grad, was 21 Grad mehr als im vergangenen Jahr sind. 


Der letzte Berg


„Ist das jetzt der letzte Berg?“, klagt es hinter mir. Ich kann bestätigen, dass wir gleich da sind, und werde zum Dank überholt. Die letzten Kilometer durch die Wiesen vergehen auch diesmal schneller als erwartet, was unter anderem daran liegen könnte, dass das GPS nur knapp 50 km misst. Als das Stadion sichtbar wird, gönne ich mir einen kleinen Endspurt und überhole noch zwei Mitstreiter. Meine Familie trifft genau in diesem Moment ein und erlebt meinen Zieleinlauf. „Du siehst heute gar nicht so fertig aus.“, meint Frau Pulsmesser erleichtert und erstaunt zugleich. Ich lasse das unkommentiert so stehen.

Montag, 28. April 2014

Oster-Ilsetallauf am 19.4.2014



Frau Pulsmesser mag keine Berge laufen. Der "Brocken" in „Osterlauf des Brockenlaufvereins“ klingt daher zu martialisch, und ich melde uns zum synonymen „Oster-Ilsetallauf“ an, weil "Tal" eher Flachland-Assoziationen weckt. Die 96 Höhenmeter scheinen auch akzeptabel für die 8,7 km lange Strecke, die sich Frau Pulsmesser und der Junior ausgesucht haben. Das jüngste Pulsmesserchen wählt flache 1,7 km. Und ich nehme die 16,7-km-Variante mit 322 Höhenmetern.

Idyll am Start in Ilsenburg
Die beiden Lang-Versionen unseres Osterspaziergangs werden gemeinsam gestartet. Die Strecke teilt sich erst nach gut 3 km. Doch bevor wir auf sie entlassen werden, gibt man uns eine Warnung vor Glatteis mit auf den Weg. Nach der kalten Nacht ist die Brücke über die Ilse trotz des sonnigen Morgens noch überfroren. Doch das scheint die Spitzengruppe wenig zu stören, die dieses Hindernis mit hohem Tempo nimmt und alsbald hinterm nächsten Hügel aus meinem Blickfeld verschwindet.

Hinterm Hügel? Wir sind doch noch auf dem gemeinsamen Streckenteil. Müsste es hier nicht flach sein? Oh, wie wird mich Frau Pulsmesser verfluchen!

Während ich im Geiste meine Frau um Gnade bitte, kommt eine andere Frau in mein Blickfeld. Es ist die führende Läuferin, die ich kurz darauf überhole. Vor mir läuft nun ein Herr mit vorbildlichem Laufstil. Die Füße schwingen hinten lehrbuchhaft weit nach oben. Als ich zu ihm aufschließe, folgt auch eine Situation wie aus dem Lehrbuch. Es heißt, man solle sich niemals nach seinem Verfolger umsehen, da dies Angst signalisiere. Und was macht mein Vordermann? Er dreht sich zu mir um. Und ich sehe tatsächlich die Angst in seinem Gesicht! Spontan entschließe ich mich, genau jetzt vorbeizuziehen. An der Streckenteilung hoffe ich kurz auf eine weitere Verbesserung meiner Platzierung. Doch keiner tut mir den Gefallen, sich auf die kurze Distanz und damit außer Konkurrenz zu begeben. Der ganze Pulk vor mir biegt ebenfalls in die lange Strecke ein.

Waren wir bisher auf kleinen Pfaden unterwegs, geht es ab jetzt auf einem Fahrweg bergauf. Und damit ist das Überholen für mich für heute vorbei. Die lokalen Mitläufer haben vermutlich nicht nur den Vorteil der Streckenkenntnis, sondern sind sicher auch das Berglaufen gewöhnt. Unablässig windet sich der Weg hinauf, und ich lasse merklich Federn. Ich bin auch nicht ganz mit mir im Reinen, ob ich eine Woche vor der Harzquerung heute wirklich alles geben will. Und so gerät das Feld vor mir langsam außer Reichweite. Dann werde ich überholt. Erst von einem Herrn in Weiß. Und danach von einem schwarzgekleideten Läufer, der auch noch am Weißen vorbeizieht. Diese Schwarz-Weiß-Kombination wird mein Anblick bis ins Ziel bleiben.

Nach ca. 8 km ist die Plessenburg, ein Berggasthof, erreicht. Dort gibt es Verpflegung. Normalerweise nehme ich auf so kurzen Distanzen nichts zu mir. Aber nach dem Gehechel am Berg ist mein Mund so trocken, dass ich über einen Schluck vom warmen Tee recht froh bin.

Wenig später scheint der Scheitelpunkt überschritten zu sein. Ein Waldweg leitet flach weiter und bald bergab, bevor er ins Ilsetal mündet, wo eine Forststraße steil bergab in Richtung Ziel führt. Landschaftlich ist es hier ganz herrlich. Ich bedaure, dass wir nicht auf dem parallel verlaufenden, wurzeligen Pfad unterwegs sein dürfen, der sich neben der Ilse entlang schlängelt. Angesichts der Osterspaziergänger, die sich dort in Scharen empor quälen, sind wir auf dem Fahrweg wohl besser aufgehoben. 

Plötzlich versagen meine Augen. Es wirkt, als ob die separat von jedem Auge gelieferten Bilder vom Gehirn nicht mehr zu einem Gesamtbild zusammen gefügt werden. Ein bisschen komme ich mir vor wie in einer dieser Jahrmarktbuden mit den Zerrspiegeln. Jetzt bin ich richtig froh, dass wir auf dem glatten, breiten Weg unterwegs sind! Während ich noch grübele, ob es die eiskalte Luft an meinem ungeschützten Kopf ist, die meinem Hirn zusetzt, oder ob einfach die Augen zu sehr im „Fahrtwind“ tränen, passt die Optik plötzlich wieder. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie der Schwarze den Weißen – sicher unbeabsichtigt – demütigt. Schwarz kniet nieder, um seinen Schuh zu schnüren, wobei er natürlich von Weiß überholt wird. Doch kaum hat er sein Schleifchen fertig, setzt er sich seelenruhig wieder an die Spitze.

Während ich das noch amüsiert zur Kenntnis nehme, droht mir auf einmal Ungemach von hinten. Schritte werden lauter! Dass ich mich nicht umdrehen darf, habe ich ja gerade nochmal eindrucksvoll lernen dürfen. Also bleibt nur die Beschleunigung. Das Bergab-Laufen fällt mir nach der Umstellung auf den Mittelfuß jetzt viel schwerer. Ich kann nicht mehr mit großen Schritten auf die Ferse donnern. Die Oberschenkel schmerzen. Aber die Uhr tröstet und zeigt die schnellste jemals gemessene Kilometerzeit! Die Schritte verhallen.

Der Bodenbelag geht in Kopfsteinpflaster über und Bebauung setzt ein. Und immernoch geht es weiter abwärts. Langsam will ich, dass das aufhört. Immer wieder kämpfe ich mit mir, ob ich einen richtigen Endspurt rauslassen soll, um Weiß noch einzuholen. Letztlich kann ich mir das heute nicht abverlangen. Doch die Sorge vor den Schritten von hinten lässt mich das Tempo zumindest halten. Und kurz vorm Ziel steht ein Zuschauer, der es versteht, mich richtig anzufeuern. Er redet ziemlich viel auf mich ein. Die Worte dringen nicht bis in mein Bewusstsein vor. Doch der empfangene Reiz scheint direkt von der Amygdala an meine Beine gesendet zu werden, die daraufhin zum großen Finale ansetzen. 

Gleich hinter der Ziellinie erhalte ich eine Blanko-Urkunde, ein Osterei und ein paar Schoko-Häschen sowie einen Händedruck vom Verursacher der Schritte von hinten. Er formuliert seinen Respekt für meinen Endspurt, während ich, nach Luft ringend, noch keiner Worte fähig bin. Dass ich mich tatsächlich ganz wacker inmitten der einheimischen Bergläufer gehalten habe, zeigt später die Ergebnisliste, die mich als Altersklassen-Vierten ausweist.

Doch zunächst erwartet mich Frau Pulsmesser. Innerlich wappne ich mich für die Standpauke wegen des Höhenprofils. Völlig beseelt von ihrer Bezwingung des schwierigen Parcours fällt mir meine Frau jedoch glücklich um den Hals. Unser Auftakt ins Osterfest erscheint recht gelungen.

Sonntag, 20. April 2014

Mehr als Marathon - Wege zum Ultralauf



Werner Sonntag gehört zu der Generation, die das Ultra-Laufen in Deutschland überhaupt erst salon- bzw. wettbewerbsfähig gemacht hat. Mit 339 Marathons, davon 147 Ultras, zählt er zu den ganz erfahrenen Ultra-Urgesteinen. Trotz allem erklärt er - sympathisch bescheiden - sein Buch "Mehr als Marathon - Wege zum Ultralauf" nicht zum Trainingsbuch für den Ultralauf. Er stellt sogar in Frage, ob man überhaupt universelle Ultra-Trainingspläne aufstellen könne. Sein Buch soll sich einfach als Handreichung von Amateur zu Amateur verstehen ("Ich bin ein 'Jedermann'").

Sonntag mag sich trotz seiner vielen Erfolge beim Laufen als Amateur sehen, aber beim Schreiben ist er Profi. Dass hier nicht einfach ein Läufer ein Buch geschrieben hat, sondern dass ein erfahrener Autor und Redakteur gearbeitet hat, spürt man ab der ersten Zeile. Der Leser hält hier ein hervorragend recherchiertes Fachbuch in den Händen, das seine Quellen (wie z.B. Ernst von Aaken) kritisch hinterfragt.

Des Autors Mindestanspruch ist offenbar, dass Ultra-Laufen als Sport akzeptiert und toleriert wird. An zahlreichen Beispielen aus seiner umfänglichen Erfahrung wird deutlich, dass das – gerade auch in Sportverbandskreisen – lange nicht der Fall war. Eine Situation, mit der Sonntag noch immer nicht versöhnt scheint. Das eigentliche Anliegen des Autors besteht darin, für das Ultra-Laufen zu werben. Wer mit der Ultra-Distanz (bisher) keine Berührung hatte, lese also dieses Buch! Doch auch Läufer mit Ultra-Erfahrung werden noch Nutzen aus der Lektüre ziehen.

Werner Sonntag*
Jedem Kapitel des Buches ist ein passendes Zitat vorangestellt. Allein diese Zitate-Sammlung ist schon lesenswert. Am Ende jedes Kapitels werden die Ausführungen in ein paar kurzen Merksätzen zusammengefasst. Somit könnte der eilige Rezipient das Buch auch hurtig querlesen. Doch damit brächte er sich um das Vergnügen, den fundierten, mit Beispielen, Quellen und Erlebnissen belegten Argumentationen des Autors zu folgen. Nicht alle mögen den Leser überzeugen, was Werner Sonntag auch selbst einräumt und als Beispiel den Aufschrei einer Ärztin angesichts seiner Behauptung anführt, man könne ohne Risiko jeden Monat einen Marathon laufen. Doch seine Einsichten entstammen einer so extrem langen Erfahrung (teilweise revidiert er inzwischen  eigene Ansichten aus seinen früheren Werken), dass sie alle Theorie blass aussehen lässt. "Dies ist das Buch eines Praktikers für die Praxis."

Dass Sonntag einer anderen Generation angehört, wird nicht nur an seiner langen Erfahrung deutlich. Auch sein Frauenbild ist davon geprägt. So postuliert er, dass gerade Frauen für den Ultra-Lauf geeignet seien, da es in diesem Bereich weniger wettkampforientiert zugehe. („Die Frau ist ein Dauerleister.“)

Ab 50 km könne man von einem Ultra-Lauf sprechen, so schreibt Sonntag. Doch zwischen den Zeilen liest man immer wieder, dass für ihn ein richtiger Ultra 100 km lang sein muss. Während das Finish eines Marathons noch einigermaßen planbar sei, bleibe der Ultra ein Abenteuer. Um dieses Abenteuer erfolgreich zu bestehen, liefert sein Werk jede Menge wertvolle Praxis-Tipps, z.B. zu Training, Psyche, Ausrüstung, Krise, Strategie und Ernährung.
"Den Lauf zu beenden, nur weil das Laufen schwer fällt und es irgendwo weh tut, ist nicht zu akzeptieren. Denk' daran, wenn du in Versuchung gerätst."
"Wenn du den Ultrawettbewerb läufst, denke an mich! Denke daran, dass ich wahrscheinlich dieselben Probleme wie du gehabt habe. ... Meinen letzten 100-Kilometer-Lauf bin ich im Alter von 82 Jahren gelaufen und gegangen. Da wirst du das doch auch schaffen."
Werner Sonntag,  Mehr als Marathon - Wege zum Ultralauf, Sportwelt-Verlag

Leseprobe

*Foto: AlphaFoto via Sportwelt-Verlag