Fehlstart
Der Tag beginnt mit einem Fehlstart.
Hektisch treibe ich die Familie im Morgengrauen aus dem Osterferien-Quartier
und halte kurz vor Beginn der Harzquerung meine Startnummer in den Händen. Die
Zeit wird gerade noch reichen, um den Fußweg zum Start in der Salzbergstraße
zurückzulegen. Aber wieso liegen die hier in der Turnhalle noch so entspannt in
ihren Schlafsäcken? Ein Blick in die ausliegende Ausschreibung zeigt, dass wir
eine Stunde zu früh erschienen sind! Die um eine Stunde zusätzlichen Urlaubsschlaf
gebrachte Familie zeigt Größe und trägt es mit Fassung. Und ich gelobe, das
nächste Mal ein Ferienhaus mit WLAN oder wenigstens innerhalb der
Mobilfunknetzabdeckung zu buchen, wenn ich schon ohne ausgedruckte
Ausschreibung in die Ferien fahre.
Ich werde Erster!
Auf diese Weise werde ich beim
heutigen Lauf der Erste. Der Erste, der seinen Zielbeutel auf den LKW lädt. Im
mittlerweile an der Startlinie geparkten Auto ist nun genügend Zeit, die
Ausschreibung in aller Ruhe zu studieren. Dass die Verpflegungspunkte 10 km
auseinanderliegen, war mir vom letzten Jahr nicht mehr in Erinnerung.
Angesichts des Wetterberichts, der für heute Sommer verspricht, werfe ich spontan
den Trinkrucksack hinten auf. Da jetzt kein Leitungswasser mehr verfügbar ist,
fülle ich „medium“ blubberndes Mineralwasser in die Trinkblase, was zu bemerkenswerten
Effekten führen wird.
Ambitioniertes Vorhaben
Am Start fachsimpelt neben mir der
Träger eines Trans-Gran-Canaria-Shirts mit einem Rennsteig-Nonstop-Finisher.
Ich lausche ehrfürchtig, anstatt zu erkennen, dass ich mich eindeutig zu weit
vorn aufgestellt haben muss! Aber ich will ja dieses Jahr schneller sein, als
bei meinem Harzquerungs-Debüt im Vorjahr.
Zeitiges Kommen sichert die besten Plätze |
Tschüss, Kohlenhydrate!
Unvermittelt knallt ein Schuss. Und
sofort geht es steil bergauf. Vor uns liegen 300 Höhenmeter hinauf zur
Zillierbach-Talsperre. Und schon jetzt wird teilweise gegangen! In meiner
Erinnerung bin ich die letzte Harzquerung bis auf wenige Segmente am Poppenberg
durchgelaufen. Habe ich die Gehstellen verdrängt? Oder bin ich heute nicht
richtig fit? War der Wettkampf letzten Samstag
zu viel? Hätte ich mich schonen sollen, anstatt am Montag den wunderbaren
24-km-Berglauf über Hannskühnenburg und Großen Knollen zu genießen? Solche
negativen Gedanken bestimmen schon die ersten Kilometer. Und allen guten
Vorsätzen zum Trotz, schießt mir der Puls an manchem Anstieg weit über die 80%,
die ich mir als Maximum definiert hatte. Kohlenhydrate verbrennen, die ich heute
noch vermissen werde.
Ein Experiment
Bis zur ersten Verpflegungsstelle
erscheint mir der Rucksack als unnötiger Ballast. Die Bewegung hat einiges
Kohlendioxid vom Wasser getrennt, so dass es bei jedem Schritt nervend
plätschert. Ich trinke zunächst das Wasser des
Veranstalters, das diesmal in herkömmlichen Einwegbechern gereicht wird. Die
Impo-Tee-Tassen sieht man nur noch vereinzelt. Dazu nehme ich ein paar
Apfelstücke, will ich doch heute der Empfehlung Werner Sonntags folgen und
keine industriell verarbeiteten Lebensmittel zu mir nehmen. Also keine Gels,
kein Iso und keine Cola. So sollen laut Sonntags Postulat die häufig bei
Belastung auftretenden Magenbeschwerden verhindert werden. Ganz vertraue ich
der These noch nicht und führe sicherheitshalber noch zwei Gel-Chips mit.
Tschüss, Bestzeit!
Bald hat sich die Pace über die Auf-
und Abstiege bei 5:35 eingependelt. Doch ich spüre schon jetzt, dass ich damit
wohl überzogen habe. Bestätigt wird dies in den zwanziger Kilometern. Jetzt
überholen die disziplinierten Strategen, die anfangs mit ihren Kräften
haushielten und die zweite Hälfte frisch angehen können. Ein Herr tänzelt auf
dem Vorfuß an mir vorbei, ohne mit der Ferse den Boden zu berühren und widerlegt damit die Theorie, dass dieser Laufstil auf der Langstrecke ineffizient sei.
Ineffizienter fühlt sich jedenfalls mein Vorankommen an. Besonders deprimierend ist
der Moment, als sich seitlich ein ansehnliches Bäuchlein in mein Blickfeld
schiebt und von seinem Besitzer flott an mir vorbei getragen wird. Mit einer
Bestzeit wird es heute wohl eher nichts.
Schon seit den ersten Kilometern
spüre ich einen Fremdkörper in der rechten Socke. Nun ist links die Gamasche an
der Ferse hochgerutscht und hat dort dem Walde Einlass gewährt. „Das wird
schöne Blasen geben!“, denke ich, ohne mir einen Stopp zum Schuhleeren zu
gönnen.
Naturerlebnis
Mein Landschaftsgenuss ist heute
also etwas eingeschränkt, was weder an der Strecke noch am Wetter liegt. Die
Sonne bescheint lange Bergab-Passagen auf schmalen Pfaden, Bachüberquerungen
mit und ohne Brücken, von Wildschweinen durchwühlte Mooswege zwischen
schattenspendenden Fichten, wurzelige Passagen und von jungen Buchen
überwucherte Pfade. Das alles nehme ich dennoch bewusst und dankbar wahr. Nicht
ganz so dankbar bin ich, wenn der Bewuchs so dicht ist, dass ich mir die Arme
vors Gesicht halten muss, um es vor hineinpeitschenden Zweigen zu schützen. Die
Harzquerung ist ein Naturerlebnis!
Tschüss, Herr Sonntag!
Nach der dritten Verpflegungsstelle
am Sophienhof bei km 31, wo ich wieder bei Apfel, Banane und Wasser bleibe,
muss ich feststellen, dass mir die folgende, lange Single-Trail-Abwärtspassage
nicht so viel Freude wie im Vorjahr bringt. Nicht nur die Oberschenkel
schmerzen, auch im Bauch breitet sich Unwohlsein aus. Ich schicke Herrn Sonntag
in die Wüste und werfe einen Gel-Chip ein. Für das im Rucksack mitgeführte
Wasser bin ich schon seit einer Weile dankbar. Und das leichte Prickeln der
Kohlensäure erweist sich als äußerst angenehm, so dass ich erwäge, künftig
immer „Medium“ einzufüllen.
Poppenberg
3 Stunden und 15 Minuten bin ich
inzwischen unterwegs. Während ich mit einem normalen Marathon schon fertig
wäre, wartet die eigentlich Herausforderung erst noch auf mich. In meinen
kühnsten Träumen wollte ich diesmal den Poppenberg laufend bezwingen, nachdem
er mir im letzten Jahr harmloser als befürchtet erschienen war. Stattdessen
muss ich fast den ganzen Anstieg von 300 Höhenmetern gehend absolvieren. Durch die
Umstellung auf den Ballengang
bin ich dabei auch noch deutlich langsamer als die anderen Geher. Orthopädisch
mag es sinnvoll gewesen sein, sich diese Gehtechnik anzueignen. Im Hinblick auf
die Effizienz beim Ultra erweist sich der Wechsel heute als eher hinderlich.
Dafür greifen die Trailroc-Schuhe
in dem extremen Schlamm am zerfahrenen Hang, dass es eine wahre Freude ist,
schlingerte ich doch im letzten Jahr noch mit Straßenlaufschuhen über den Harz.
Noch ein Abschied
Auf dem Gipfel, der auf dieser kilometerschildlosen
Strecke den Kilometer 39 markiert, gönne ich mir endlich Iso. Doch
das Zeug schmeckt wässrig und kaum süß. Der ersehnte Kick bleibt aus. Beim
Weiterlaufen liegt die Pace schon knapp über einem 6er Schnitt. Noch habe ich
Hoffnung, auf dem langen Bergab-Stück Zeit gutmachen zu können. Doch abwärts zeigt es
sich, dass es mir geradeso gelingt, die Pace zu halten. Von einer Zielankunft vor
Ablauf von 5 Stunden muss ich mich spätestens jetzt verabschieden. Nachdem das
geklärt wurde, ist mir die Zeit egal und der Antrieb weg. „Es knackt nicht,
wenn der Wille bricht.“, habe ich gerade in meinem Urlaubsbuch gelesen.
Badewetter
Beim 43-km-Verpflegungspunkt kippe
ich Cola, Iso und Wasser hinunter. Zusammen mit dem Wasser aus meiner
Trinkblase habe ich unterwegs ca. 2,5 Liter Flüssigkeit aufgenommen. Der
nächste Toilettengang wird trotzdem erst sieben Stunden nach dem Start fällig
sein. Einen Beitrag zum Flüssigkeitsverlust dürften die mittlerweile hohen
Temperaturen leisten. Am letzten Verpflegungspunkt kommentiert das eine
Helferin: „Heute ist doch Badewetter, und kein Wetter zum Laufen!“ Und im Auto
von Frau Pulsmesser steht die Anzeige bei 24 Grad, was 21 Grad mehr als im vergangenen
Jahr sind.
Der letzte Berg
„Ist das jetzt der letzte Berg?“, klagt
es hinter mir. Ich kann bestätigen, dass wir gleich da sind, und werde zum Dank
überholt. Die letzten Kilometer durch die Wiesen vergehen auch diesmal
schneller als erwartet, was unter anderem daran liegen könnte, dass das GPS nur
knapp 50 km misst. Als das Stadion sichtbar wird, gönne ich mir einen kleinen
Endspurt und überhole noch zwei Mitstreiter. Meine Familie trifft genau in
diesem Moment ein und erlebt meinen Zieleinlauf. „Du siehst heute gar nicht so
fertig aus.“, meint Frau Pulsmesser erleichtert und erstaunt zugleich. Ich
lasse das unkommentiert so stehen.