Die Erleuchtung ist über mich gekommen. Denn ich trete erstmals ohne Laufuhr an die Startlinie eines Marathons. Zum Jahresausklang möchte ich beim Siebengebirgsmarathon am 8.12.2013 einfach die Landschaft genießen.
Als Laufpartner mit Streckenerfahrung wird mir Ralf vermittelt. Wir kennen uns nicht, aber Alters- und Leistungsklasse passen, und wie sich herausstellt, stimmt auch die Chemie.
Die Ausschreibung verspricht einen Lauf auf befestigten und unbefestigten Waldwegen mit geringem Asphaltanteil und 650 Hm. Der Moderator nennt 800 Hm. Ralfs Uhr mit barometrischer Höhenmessung wird am Ende mit 745 Hm etwa den Mittelwert anzeigen.
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Später beim Zieleinlauf steht die Anzeige auf 7,7 |
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Viel Platz hinter der Startlinie |
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Lockere Grüppchen am Start |
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Startaufstellung |
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Fernblick von der Startlinie |
Doch zunächst begeben wir uns auf den 850 Meter langen Weg zur Startlinie. Ich bibbere bei 4 Grad in Langarmhemd und T-Shirt vor mich hin. Den ausdrücklichen Wunsch meiner Frau, endlich diesen alten Pullover am Start zu entsorgen, muss ich ignorieren, da die Veranstalter darum baten, keine Wegwerfbekleidung zu hinterlassen. Viele Gesichter im Pulk kommen mir bekannt vor. Auch meine
Marienerscheinung ist wieder mit dabei. Einen Herrn kenne ich bisher nur von
Bildern aus dem Internet. Er ist dabei zu sehen, wie er - behütet mit einer blauen Nikolausmütze - Fotos für seinen Laufbericht knipst. Wir bleiben ganz hinten. Von einem Startblock möchte man nicht sprechen, denn alle stehen in lockeren Grüppchen herum, bis jemand von einem Traktoranhänger herunter "Los!" ruft.
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Die ersten Meter im Wald |
Nach einer kurzen Einführungsrunde durch den Ort finden wir uns auch schon im Walde wieder. Dort soll am Vortag noch Schnee gelegen haben. Entsprechend matschig geht es zu. Doch meine normalen Straßenlaufschuhe NB880 reichen völlig aus. Komplettiert habe ich sie lediglich mit INOV-8-Gamaschen. Diesmal reißt kein Gummi (ja, kann auch beim Laufen passieren), und die Schuhöffnung bleibt bis ins Ziel geschützt. Wie ich von hinten aussehe, weiß ich nicht. Aber manch einer ist bis zur Hüfte voll Schlamm, während andere komplett sauber bleiben. Liegt es am Schuhprofil, am Laufstil oder sind die eine andere Strecke gelaufen?
Die Wege dürften durchweg mit einem Forstfahrzeug zu bewältigen sein. Single-Trails gibt es hier nicht, aber durchaus schöne Landschaft links und rechts. Meistens ist der Anblick durch Bäume geprägt. So ist das eben im Wald. Immerhin wechselt der Bewuchs zwischen Lärchen, Laubwald ohne Laub und Fichten. Ein paarmal murmelt ein Bächlein an der Seite. Sogar felsiges Gebiet wird durchquert. Insgesamt ist die Landschaft also nicht ohne Liebreiz, auch wenn mein Wunsch einer Gipfelpassage unerfüllt bleibt. Im Nachhinein ärgere ich mich, nicht auf Ralfs Vorschlag eingegangen zu sein. Er wollte einen Fotostopp an einer ganz besonders spektakulären Aussichtstelle machen. Von der dortigen Abbruchkante reichte der Blick weit ins Rheintal und hinüber zum Petersberg. Ich will aber den ganzen Marathon durchlaufen und nicht stehen bleiben. So ganz klappt das mit dem erleuchteten Genussläufer also noch nicht. Immerhin nutze ich erstmals unterwegs das Handy als Fotoapparat, schieße aber alle Bilder im Laufen aus der Hüfte. Oft haben wir das Motiv schon passiert, bevor ich die Handschuhe ausgezogen und das Gerät heraus gefummelt habe.
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Der erste Anstieg bei km 5 |
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Noch ein Berg |
Ralf und ich verstehen uns gut und plaudern unentwegt. Die Wege führen auf und ab. Die Strecke scheint niemals flach zu verlaufen. Doch die Gefälle sind - verglichen mit
Rennsteig,
Harzquerung oder
Kyffhäuser Berglauf - jeweils recht kurz und alle gut laufbar. Da wir uns von hinten durch das Feld arbeiten, treffen wir am Hang trotzdem auf viele strategische Geher. Ich erfreue mich der Bewegung in dieser waldreichen Gegend so sehr, dass ich nach 21 km enttäuscht bin, dass es schon halb vorbei ist. Die blau-weißen Symbole an den Bäumen zeigen uns, dass wir auf dem Rheinsteig unterwegs sind. Und wir stoßen permanent auf Markierungen von Kilometern, die wir längst passiert haben. Aber dass wir hier schon einmal vorbeigekommen sein sollen, scheint mir unwahrscheinlich. Ich erkenne jedenfalls nichts wieder. Seltsam. *
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Insgesamt etwa 3 km Asphalt |
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"Alpines" Gelände nur am Wegrand |
Wie steuert man sein Tempo, wenn man ohne Uhr unterwegs ist? Für mich ist das heute ganz einfach. Ich laufe einfach Ralfs Tempo. Wäre ich allein, könnte ich - als "Das Pulsmesser" - meine Laufuhr so programmieren, dass sie im Display keine Zeit, sondern nur den Puls anzeigt. So ganz kann ich mich heute doch noch nicht von der Zeit lösen. Zumindest meine Armbanduhr habe ich umgebunden gelassen, und bei den vollen Zehnern linse ich heimlich drauf. Ralf hatte von "um die 4 Stunden" gesprochen. Wir sind auf Kurs.
In den 30ern versiegt unser Redefluss zusehends. Die Beine werden schwerer. Auch wenn man langsam läuft, werden es doch nicht weniger Schritte, die zu tun sind. Ich empfinde es jedoch als äußerst wohltuend, die ganze Zeit nur zu überholen. Ein Hang voller Geher liegt schnurgerade vor uns, und wir ziehen an allen vorbei.
Kurz vor km 40 überholen wir noch einen einsamen Kämpfer. Während er mit verkniffenem Gesicht die letzte, leichte Steigung erklimmt, passieren wir ihn munter schwatzend. Er tut mir leid. Denn aus eigener, leidvoll und mehrfach gemachter Erfahrung, weiß ich wie sich das anfühlt.
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Sauber nur dort, wo die Gamasche saß |
Bevor wir den Wald verlassen, macht uns ein einzelner Zuschauer mit Trillerpfeife und Tambourin die Samba-Band. Wir sind in der Lage, lachend unsere Schritte seinem immer schneller werdenden Rhythmus anzupassen. Die letzten beiden Kilometer haben wir wieder Asphalt unter den Füßen. Und ich bekomme Lust, noch ein paar Reserven zu verpulvern. Die Armbanduhr reicht, um abzuschätzen, dass ein kleiner Endspurt eine Zielzeit unter 4 Stunden brächte. Es mag ein Widerspruch zum zeitlosen Genusslaufen sein, aber auch das ist Genuss: im Endspurt dem Ziel entgegen zu jagen und unterwegs den Zuschauern lächelnd und entspannt für den Beifall zu danken.
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Zieleinlauf |
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Zielbogen |
Und dann kommt für mich ganz zum Schluss noch eine Premiere. Wir laufen in das Bürgerhaus hinein und drinnen im Festsaal durch den Zielbogen. Das nenne ich eine gute Idee! Statt irgendwo in der Kälte schlotternd dem Open-Window-Syndrom zu trotzen, können wir uns in der warmen Halle in einen Polsterstuhl fallen lassen und, das angenehme Gewicht der Medaille auf der Brust, die reichliche Zielverpflegung genießen. Es sind heiße Brühe, Laugenbrötchen, Äpfel, Orangen, Trockenobst, Erdnüsse, Cola, Wasser und Schorle wohlfeil. Sein optisches Gegenstück findet dieses Gaumen-Erlebnis durch eine Akrobatik-Show auf der Bühne. Und das alles für 24 Euro! Da nehmen wir gern in Kauf, dass es bis zu den Duschen ca. 500 m zu gehen sind und der für dort versprochene freie Eintritt ins Hallenbad - der Kalauer muss jetzt sein - in dessen Wasser fällt, da es verschlossen ist.
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Warme Festhalle |
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Akrobatik-Show |
Dieser Tage las ich in einem
Interview mit dem Organisator der "TorTour de Ruhr" den Tipp: "Weniger trainieren, mehr laufen!" Unser heutiger Marathon als Lauf mit Vollpension in reizvoller Landschaft hat diesem Motto in meinen Augen entsprochen. Und ohne Laufuhr hatten wir dabei "eine gute Zeit"!
*Nachtrag: Inzwischen ist das Hirn wieder besser durchblutet. Es muss sich um die Halbmarathonmarkierung gehandelt haben.