Viele Gründe sprechen dagegen, zwei Wochen nach einem 100er gleich nochmal 73,5 km zu laufen. Als sich spontan eine Mitfahrgelegenheit zum Rennsteiglauf bietet, will mir ganz plötzlich kein solcher Grund mehr einfallen.
Man kennt den Effekt noch aus dem Physik-Unterricht: Ausdehnung bei Erwärmung. Unter dem Einfluss des Treibhauseffekts scheint nun sogar der Rennsteig länger geworden zu sein. Wurden bisher 72,7 km für den Supermarathon veranschlagt, so werden in diesem Jahr 800 m mehr ausgeschrieben. So richtig traut man der ganzen Messerei wohl nicht mehr. Jedenfalls verzichtet der Veranstalter neuerdings darauf, die Distanz auf das Finisher-Shirt zu drucken. Trotzdem will ich es haben!
Ein Supermarathonfinisher oder ein super Marathon-Finisher? |
Nach dem am Anschlag gelaufenen 100er verbieten sich allzu hoch gesteckte Ziele, was den Druck auf angenehme Weise reduziert. Das Tief zwischen km 60 und 80 vor zwei Wochen war eine üble Erfahrung, so dass ich heute als oberstes Gebot "mit gutem Kopf" unterwegs sein möchte. Ich will ohne Leiden ins Ziel kommen - und vielleicht trotzdem etwas schneller sein als bei meinem ersten Supermarathon vor vier Jahren? Es heißt doch immer, dass man nach einem Langstreckenrennen Bestzeiten auf den Unterdistanzen laufen könne ...
Vorm Start auf dem Eisenacher Markt |
Dazu habe ich mir eine Strategie ausgedacht. Ich muss mich bloß auch mal dran halten! Der Trick beim Rennsteig besteht darin, während des langen Anstiegs vom Start bis zum Gipfel des Großen Inselsbergs mit den Kräften zu haushalten. Dieses erste Segment darf ich mit einer 7er Pace zuckeln. Wenn ich danach mit einer 6er Pace ins Ziel laufe, werde ich nach 7:46 Stunden im Ziel sein - elf Minuten schneller als beim ersten Versuch.
Zum Inselsberg
Ich lasse mir Zeit, gehe die steilen Segmente, zum Beispiel vorm Dreiherrnstein und vorm Inselsberg-Gipfel. Das Tempo fühlt sich entspannt an, obwohl die Uhr eine Pace von 6:23 zeigt. Gerne würde ich schneller laufen, denn mir wird immer kälter, je höher wir kommen. Immer wieder sage ich mir "Das Rennen wird nicht auf den ersten 25 km entschieden, sondern auf den letzten 25!" Es kostet einiges an Disziplin, sich fast drei Stunden lang zu bremsen. Aber es gibt genügend abschreckende Beispiele in der Läuferschar um mich herum, denen die Belastung schon jetzt anzusehen ist.
Bei 100-km-Läufen in Deutschland finden sich meist weniger als 300 Starter. Der Rennsteig-Supermarathon mit seinen 1800 Höhenmetern dürfte kaum wesentlich weniger anstrengend sein, lockt aber rund 2500 Läufer an den Start. Da hat vermutlich nicht jeder ein adäquates Training absolviert.
Auf dem Gipfel bricht endlich die wärmende Sonne durch den Nebel. Eigentlich wollte ich mich von Wasser und Bananen ernähren. Aber wegen der niedrigen Temperaturen greife ich unterwegs dankbar zum heißen Tee. Und zum Schleim! Ich hatte ja völlig vergessen, dass es hier den legendären Haferschleim gibt. Köstlich! Von den ebenfalls feilgebotenen Wiener Würstchen lasse ich aber die Finger.
Tee-Ausschank vor der Kleiderbeutelabgabe |
Vom Inselsberg führt ein langer, steiler Abhang zum Kleinen Inselsberg hinunter. Ich lasse es richtig krachen und donnere lustvoll die Piste runter. "Denk an deine Knie.", raunt mir ein erfahrener Läufer zu, der sich vorsichtig zu Tale tastet. Nein, den Spaß gönne ich mir! Schließlich habe ich erst kürzlich auf ganz anderem Untergrund geübt.
Die Hälfte ist geschafft!
Bei der Ebertswiese fingen bei meinem Debüt die schlechten Gedanken an. Auch heute spüre ich die Beine deutlich. Die Wahrnehmung ist aber positiv. Freudig wird das Schild "Die Hälfte ist geschafft!" registriert. Mein Mantra lautet heute: "Du hast bis jetzt alles richtig gemacht."
Kilometer 50 passiere ich fast exakt nach fünf Stunden. Nur noch ein Drittel! Am Start meinte jemand, wenn man am Grenzadler sei, habe man es praktisch geschafft. Nun ja, damals hatte ich dort bei km 54 eine ganze Weile mit mir gerungen, ob ich nicht die Möglichkeit zum Ausstieg mit offizieller Wertung nutzen sollte. Heute sagt der Moderator beim Durchlauf gerade die 15. Frau an. Den Dreiherrenstein hatte ich noch mit der Frau auf Platz 34 überschritten. Es läuft! Und es fühlt sich gut an, permanent zu überholen, auch wenn das mit der Relativgeschwindigkeit geschieht, die ein Lkw in der linken Autobahnspur gegenüber dem Truck in der rechten aufweist. Natürlich schießt auch hin und wieder mal ein Porsche vorbei. Aber je weiter ich komme, um so mehr havarierte Sportwagen stehen am Rand. "Du hast bis jetzt alles richtig gemacht."
Der ist fertig!
Mittlerweile muss ich etwas fokussierter laufen. Der Blick ist einwärts gerichtet. Vermutlich habe ich gerade mal etwas tiefer durchgeatmet, oder vielleicht galt es auch gar nicht wirklich mir. Jedenfalls schnappe ich die Bemerkung vom Rand auf: "Der ist fertig!" An mir gleitet das ab, weil es einfach nicht stimmt. Aber wie muss sich so ein Kommentar in den Ohren derjenigen anhören, die sich wirklich auf dem Zahnfleisch ins Ziel schleppen?!
Es zieht sich aufwärts. Nicht steil, vor allem nicht steil genug zum Gehen. Aber lang. Ich weiß, dass der höchste Punkt der Strecke markiert ist. Und ganz oben sehe ich ein Schild. "Lass es den höchsten Punkt sein!", denke ich bei jedem Schritt. "Lass es den höchsten Punkt sein!" Und tatsächlich, er ist es! Ab jetzt geht es tendenziell bergab. Die steile Wiese runter zum Schmücke-VP sorgt nochmal für richtigen Lauf-Spaß. Ich mache hier gleich zwei Plätze in der Damenwertung gut.
Retardierendes Moment
Ein Porsche-Läufer, schon in Finisher-Stimmung, versucht einen Geher zu motivieren. Doch der gibt mit gebrochener Stimme zurück: "Bergab geht gar nicht mehr." Gerade bedauere ich den armen Kerl, müssen wir doch jetzt eigentlich nur noch runter ins "schönste Ziel der Welt - in Schmiedefeld", da gibt es einen weiteren, langen Gegenanstieg. Ich gehe ein paar Schritte. Dummerweise schmerzt seit geraumer Zeit beim Gehen mein rechter, hinterer Oberschenkel mehr als beim Laufen. Also laufe ich wieder an. Genau in dem Moment schießt mir ein Krampf in die Innenseite des Oberschenkels. "Was? Jetzt, so kurz vor dem Finale dieses flüssigen Rennens, soll plötzlich alles vorbei sein?!" Krämpfe hatte ich unterwegs noch nie. Was macht man da? Ich laufe weiter. Der Schmerz ist gerade noch so auszuhalten. Nur ein µ mehr und ich stünde auch am Rand. Die Therapie schlägt an. Der Krampf verschwindet so plötzlich, wie er gekommen war.
"Das schönste Ziel der Welt - in Schmiedefeld" |
Durch die Menge der ausnahmslos applaudierenden 17-km-Wanderer renne ich Richtung Ziel, das schon seit Langem zu hören ist. Das "Du siehst ja noch ganz entspannt aus!" vom Streckenrand klingt fast ein bisschen enttäuscht. Dann sieht man einen Zielbogen, von dem sich der erfahrene Rennsteigläufer jedoch nicht verwirren lässt. Erst der dritte Bogen ist der wahre. Hier darf endlich gejubelt und geweint werden.
Mittlerweile bin ich geneigt, das Gelingen eines Ultras weniger nach der erreichten Zielzeit als nach dem Befinden unterwegs zu beurteilen. In dieser Wertung liege ich heute ganz weit vorne. Trotzdem muss die Zielzeit von 7:18:22 nicht verschwiegen werden, bedeutet sie doch eine Verbesserung von 39 Minuten. Und ich finde, 13. Frau klingt irgendwie viel besser als 206. Mann.