Heute gebe ich zehn Prozent! Ich habe ausreichend trainiert,
ordentlich getapert und es im Vorfeld nicht übertrieben. Da es heißt: „90
Prozent des Erfolgs sind Vorbereitung“, muss ich jetzt lächerliche
zehn Prozent dazu geben und die 100 Meilen der TorTour de Ruhr nur noch laufen. Ha, die
mentale Einstellung passt offenbar!
Prolog
Die Abendsonne taucht die bewaldeten Hänge des Sauerlandes
in goldenes Licht. Die hügelige Prolog-Runde, eigentlich nur dazu gedacht, die
Distanz auf 160,9 km aufzustocken, ist ein Naturgenuss! Auch die Laune im
sehr verhalten dahintrabenden Trupp ist bestens. Am ersten und einzigen
Downhill der ganzen Strecke lasse ich mich zu ein paar schnellen Schritten
hinreißen und schließe zu einem Kameraden auf, der den Hundertmeiler in einem Schnitt
von 6:30 min/km zurücklegen möchte. Beim letzten Mal habe er die ganze Ruhrlänge
von 230 km absolviert, berichtet er. Nach 17 Stunden hatte er damals schon die
ersten 100 Meilen hinter sich und musste auf seine Crew warten, die noch gar
nicht eingetroffen war und legte sich schlafen. Ich bin hier offenbar ganz falsch, ich bin viel zu
schnell!
Der schrecklichste Moment
Am Abzweig zum ersten VP ist meine Trinkflasche noch gut gefüllt. Einen Notriegel habe ich auch dabei. Also weiche ich vom Plan ab und spare mir den Abstecher zur etwas abseits gelegenen Halle. Nun bin ich ganz allein unterwegs und
Ausrüstung und Zeitziel
Meine Tempofindung ist weitgehend gefühlsbasiert, denn ich laufe ohne Pace-Anzeige. Nach gut 2,5 Jahren traue ich dem Akku der Fenix 3 keine 20 Stunden Laufzeit mehr zu. Und 20 Stunden sind schon mein ideales Zeitziel. Primär will ich natürlich überhaupt erstmal „Ankommen“. Und mit „sub 24h“ wäre ich auch schon höchst zufrieden. Einst hatte ich den Ultratrac-Modus der Garmin-Uhr getestet. Sie erwies sich dabei als so ungenau, dass ich beschlossen habe, einfach nur nach Durchgangszeiten zu laufen. Für die ersten 60 km ist eine Pace von 6.30 min/km vorgesehen. Danach darf sie auf 7.00 min/km fallen. Und ab 100 km reichen 8.30 min/km, um vor Ablauf der Idealvorgabe von 20 Stunden ins Ziel zu kommen. Eine gewisse Orientierung gibt mir mein uralter „Garmin GPSmap60csx“. Er gibt mir nicht nur den zu laufenden Track vor, sondern kann auch die Geschwindigkeit zumindest in km/h anzeigen. Die Tabelle mit den geplanten Zwischenzeiten baumelt laminiert an meiner Startnummer.
Die ideale Crew
Bei der TorTour ist eine Begleit-Crew Pflicht, um den Läufer zusätzlich zu den sieben offiziellen Verpflegungspunkten auf den 160,9 km zu versorgen und im Zweifelsfall zu bergen. Mein gesamtes Team besteht aus genau einem Mitglied: meiner Frau. Mit dieser Ideal-Besetzung weiß ich ganz sicher, dass ich mich unter allen Umständen auf jeden Einzelnen meiner Mannschaft zu 100 Prozent verlassen kann!
Das Unvorhergesehene
An vorher definierten Wegpunkten erwartet mich die
Pulsmesserin mit dem Begleit-Pkw. Ich tausche die Trinkflasche gegen eine volle und nehme einen Happen mit auf den Weg. Gerade als sich eine gewisse Routine bei
unseren Treffs eingespielt hat, passiert das Unvorhergesehene. Obwohl ich am
GPS-Gerät die größte Schriftart eingestellt habe und mein laminierter Zeitplan in
Schriftgröße 14 und fett gedruckt ist, kann ich im Licht der Stirnlampe nichts davon mehr lesen. Wir hatten Crewing auf der Originalstrecke geprobt.
Was ich jedoch nicht geübt hatte, war das Laufen durch die Nacht - schon gar
nicht mit der geplanten Wettkampfausrüstung. Es kommt, wie es kommen muss: wir
verpassen uns an einer geplanten Versorgungsstelle und ich laufe kurzzeitig
trocken mit leerer Flasche (aber noch nicht „wie Flasche leer“).
Ab jetzt muss meine Frau nicht nur die tatsächliche Laufzeit
gegen den Plan abgleichen, sondern mir auch noch genau sagen, nach wieviel
Kilometern der nächste Treff oder offizielle VP folgt. Und vor allem
muss sie sichtbar an der Strecke stehen, damit ich nicht wieder vorbei laufe. Notiz
an mich: nächstes Mal größer und kontrastreicher ausdrucken und im Garmin
unterschiedliche Symbole für die einzelnen Wegpunkt-Arten (Treff/VP/andere
Punkte) nutzen. Oder mit Lesebrille laufen?
Die schönsten Stunden ins Schlaraffenland
Auf die kurze Aufregung folgen die schönsten Stunden des Laufs. War die Dämmerung schon herrlich, so ist das einsame Laufen durch die Ruhe der Nacht ein ganz besonderes Erlebnis. Ich schalte auf Autopilot. Die Kilometer rinnen mir wie von selbst aus den Beinen.
Nach 64 Kilometern treffe ich im Schlaraffenland
ein. Und ich kriege keinen Bissen mehr runter! Der dortige VP befindet sich in einem Restaurant mit Bar und
All-inclusive-Büfett. Chromblitzende
Warmhaltegefäße reihen sich auf langen Tischen. Von den Spiritusbrennern ist die Luft in dem warmen Raum verbraucht. Ich würge einen Becher
alkoholfreies Weizen hinunter und lecke kurz an einem Stück Melone. Dann muss
ich da raus. Ab jetzt werde ich wohl auf Flüssignahrung umstellen.
Keine 100 Kilometer mehr! Da ich das Navi nur an Kreuzungen
aus dem Rucksack nehme, bleibt ein Verlaufer nicht aus, als ich einen Abzweig
nicht wahrnehme. Glücklicherweise bemerkt es der Radbegleiter des Teams hinter
mir. Später kann ich mich revanchieren, als ich ein Paar zurückrufe, das den
Abzweig zur Fähr-Umgehung übersehen hat. Und dann graut bereits der Morgen.
Was für ein Schauspiel, als sich die Nebel nach und nach über der Ruhr lichten!
Das Duell
Als die ersten Sonnenstrahlen durchbrechen, ist es ja noch ganz schön. Doch spätestens ab dem Baldeneysee wird klar, dass mit Schatten nun nicht mehr gerechnet werden kann. Ich kämpfe mich zum VP mit dem motivierenden Namen „Ab jetzt nur noch Marathon“. Dann sind die ersten Gehschritte nicht mehr zu vermeiden. Die Beine sind nur noch Schmerz. Eine kurze Bestandsaufnahme, wo es eigentlich nicht weh tut, ergibt nicht viel mehr als „Ohrläppchen“. Ich gebe mich eine ganze Weile gehend dem Schmerz hin. Bis ich die Geschwindigkeit auf dem Garmin prüfe. Fünf km/h und noch fast 40 Kilometer vor der Brust. So wird das nichts mit den 20 Stunden! Humpelnd trabe ich wieder an und versuche an dem extrem langsamen Sonntags-Jogger mit Hund dranzubleiben, der mich eben überholt hat und nicht ahnt, was für ein hartes Duell er gerade mit mir ausficht.
Heulkrampf
Als ich meine liebste Crew am Ufer sehe, brechen sich die eigentlich fürs Ziel vorgesehenen großen Gefühle Bahn. Meine Frau ist mit der Interpretation der Situation überfordert und denkt, ich gebe gerade auf. Um ihr die Sorge zu nehmen, schnappe ich mir einfach nur die Flasche und schlurfe schniefend weiter. Ich brauche dringend eine Strategie gegen die Bein-Pein. Wie war das nochmal? Man soll den Schmerz annehmen! Doch meine Zwiesprache mit dem "Bösen Schmerz" gerät mir zur inneren Satire. So wird das nichts. Dann fällt mir ein, dass der Schmerz, der gekommen ist, auch wieder gehen wird. Ich muss aufhören mit der humpelnden Ausweichbewegung und durch den Schmerz hindurchlaufen. Es funktioniert. Ich bleibe bis zur Eisenbahnbrücke in Kettwig im Laufschritt. Wenn auch Optik und Geschwindigkeit arg verbesserungswürdig sind.
Bootsanleger in Kettwig |
Langsam!
In Kettwig steht zum ersten Mal der Campingstuhl für mich bereit. Offenbar hat mein letzter Auftritt einige Wirkung hinterlassen! Wie ich da so sitze, überholt mich ein 230-km-Läufer! Obwohl er geht, hat er zu mir aufgeschlossen! An der Länge meiner Pausen kann es nicht liegen. Der Garmin wird am Ende eine Standzeit von 23 Minuten anzeigen. Bei 20 Versorgungsstopps und drei Pinkelpausen dürfte sie nicht mehr großartig optimierbar sein.
Die A52-Brücke ist weithin sichtbar und dient daher als ganz brauchbarer Motivator, denn sie markiert den nächsten und letzten VP. Hatte man mir am vorherigen VP noch bescheinigt, auf Platz Drei zu liegen, so wähnt man mich hier an zweiter Position. Seltsam, ich habe doch niemanden überholt!
Überholt werde stattdessen jetzt ich. Von 230-km-Sprintern! Auch der 100-km-Sieger zieht vorbei. Sein Begleiter fordert mich im Kasernenhofton zum Laufen auf. Auch wenn ich nicht auf solch rauhe Ansprache stehe, muss ich mir eingestehen, dass er in der Sache recht hat. Ich trabe weiter durch die schattenlosen Ruhrauen, wenn auch extrem langsam.
Hammer und Nagel
In Mülheim wechsele ich doch noch das Hemd, das mir seit gestern 18 Uhr gute Dienste geleistet hat. Nachts hatte ich es nur mit Ärmlingen, Handschuhen und Buff ergänzen müssen. Auch jetzt ist es noch völlig brauchbar, wenn man den Geruch erträgt. Ein anderes Phänomen lässt mich seiner überdrüßig werden. Nachdem ich die Beine nun wieder einigermaßen im Griff habe, melden sich andere Körperregionen. In diesem Fall die Rippen. Genug Zeit zur Ursachenforschung hatte ich ja. Die Analyse endet bei den Taschen, die adidas im Frontbereich überflüssigerweise applizierte und obendrein noch mit einem Klettverschluss ausstattete. Der Verschluss trägt ein paar Millimeter auf. Bei jedem Schritt schlagen Flasche bzw. Navi in den Brustfächern des Rucksacks ganz leicht auf den Klettverschluss. Über die Zeit führt das zu einem Hammer-und-Nagel-Effekt.
Crew-Problem
In der Endphase des Laufs hatte ich kürzere Abstände zwischen den Treffs mit meiner Crew geplant. Nicht weil es für meine Versorgung nötig wäre, sondern als Zwischenziele zur psychologischen Unterstützung. Doch plötzlich, an völlig ungeplanter Stelle, bricht meine Frau, den Tränen nahe, aus dem Buschwerk. Im mittlerweile dichten Verkehr ist sie mit dem Auto noch langsamer als ich und glaubt, die geplanten Treffpunkte nicht rechtzeitig erreichen zu können. Nun ist es an mir, meine Crew zu supporten. Wir sagen kurzerhand alle weiteren Zwischentreffs ab und verabreden uns für die letzten Meter kurz vorm Ziel.
Rheinorange |
Die Geschwindigkeitsmessung übernimmt jetzt ein unbekannter, radelnder Ruhrpott-Fan, der extra an die Strecke gekommen ist, weil er unsere Unternehmung bewundert. Er wässert meine Mütze, zeigt mir den Weg und weist mich auf die Schönheiten der letzten Kilometer hin. "Die Häuser da hinten: das ist schon Ruhrort! Ich meine die Fabrikgebäude dort." Es ist unglaublich, auf wie viele Menschen sich die Begeisterung dieser Veranstaltung überträgt.
Rheinorange
Der letzte Punkt, der mit dem Auto erreichbar ist, liegt 1800 Meter vorm Ziel, dem ersehnten Rheinorange. Dort erwartet mich die Pulsmesserin. Wir haben das ganze Ding als Team durchgezogen, jetzt laufen wir auch gemeinsam ins Ziel! Wir amüsieren uns beide, ob der kuriosen Situation. Denn ich, mit 160 km in den Beinen, muss das Tempo reduzieren, damit meine Frau auch beim Zieleinlauf noch lächeln kann.
Und dieses Lächeln kriegen wir so schnell nicht mehr aus dem Gesicht, als wir nach 19:21:11 an der reinorange-farbenen Sehnsuchts-Stele angeschlagen haben. Als Drittplazierter darf ich ein kleines Rheinorange fortan mein Eigen nennen.
Pokal, Medaille und Buckle (v.l.n.r.) auf Startbeutel |