Mittwoch, 21. Mai 2014

Vivawest-Marathon


Spontan-Entschluss

 

Freitag-Nachmittag. Gerade sind gute Wünsche an Lauffreund Friedel für den Start beim Vivawest-Marathon am Sonntag gesandt, als ein Blick in den Kalender einen Termin in Gelsenkirchen für den nächsten Tag offenbart. Das ist doch der Startort! Wenn ich ohnehin dort bin, könnte ich mir auf der Messe eine Startnummer besorgen und Friedel beim Lauf begleiten! Ein Telefonat später steht die Mitfahrgelegenheit und damit einem langen Trainingslauf am Sonntag nichts mehr im Weg.

Im Startbereich staunen wir über dessen Großzügigkeit und die ruhige Atmosphäre. Uns beiden steht für das Aufwärmprogramm ein ganzes Stadionrund zur Alleinnutzung zur Verfügung! Vielleicht verzichten die anderen wegen des sich abzeichnenden sommerlichen Wetters auf zusätzliches Warmmachen. Bereits jetzt, gegen 9 Uhr, brezelt die Sonne auf unsere Köpfe. Das Wegwerfhemd für den Startblock kann im Kleiderbeutel bleiben.

Der grüne Punkt

 

Farbenblinde haben es bei diesem Lauf schwer. Die Startaufstellung erfolgt in vielen farblich gekennzeichneten Blöcken, wobei Grün, Blau und Petrol kaum zu unterscheiden sind. Das wissen wir heute zu unseren Gunsten zu nutzen. Die Angabe meiner Bestzeit wurde bei der Nachmeldung offenbar ignoriert. Denn ich erhielt eine Nummer mit grünem Punkt und damit, wie sich jetzt herausstellt, nur die Eintrittskarte für den letzten der beiden Marathonblöcke. Doch Friedel und ich wollen zusammen laufen und checken mit einer beherzten Flanke über den Zaun in seinem Petrol-Gebiet ein.

Verspätung

 

Im Marathonbereich herrscht gähnende Leere. Erstaunlich für so eine Großveranstaltung. 900 Marathonfinisher werden immerhin später in der Ergebnisliste stehen. Vor uns drängen sich aber massenweise Halbmarathonis und Staffelläufer in ihren Blöcken. Hier hinten bei uns hat man keine Lautsprecher mehr aufgestellt, so dass wir von der Moderation nichts hören können. Stimmung kommt also keine auf. Jedenfalls keine frohe. Es macht sich eher Frust breit. Denn um 9:30 Uhr, der geplanten Marathonstartzeit, stehen noch alle Halbmarathonis unbewegt vor uns. Sie hätten schon vor einer halben Stunde starten sollen!


Wir verlassen den Block und gehen nach vorn. Dort erfahren wir, dass auf der Strecke erst noch falsch geparkte Fahrzeuge abgeschleppt werden müssen. Als kleine Entschädigung wird ein Rabatt von 25% auf die Startgebühr im nächsten Jahr angeboten. Um 9:45 beginnt endlich die Blockabfertigung der Halbmarathonis. Auf den geplanten halbstündigen Puffer zwischen Halbmarathon- und Marathonstart verzichtet man jetzt. Wir werden direkt im Anschluss um 10 Uhr ins Rennen geschickt.

Nach dem Start des Halben dürfen wir zur Startlinie

Die ersten Geher

 

Ein Supersauerstofflauf mit einer Zielzeit um die vier Stunden würde mir gut in den Trainingsplan passen. Doch Friedel läuft seine Marathons meist in 3:45 und will das trotz der sommerlichen Temperaturen und des welligen Streckenprofils auch heute so halten. Ich habe zwar gar keine Laufuhr mitgenommen, bemerke aber trotzdem, dass wir zu schnell starten. Denn wir überholen schon bald die beiden 3:45er Zugläufer. Doch plötzlich werden wir ausgebremst. Noch vor Kilometer Drei treffen wir auf die ersten Geher. Sie walken nebeneinander. Quer über die Strecke. Mit Stöcken! Beim Halbmarathon sind offensichtlich auch Nordic Walker zugelassen.

Landschaft oder City?

 
Zeche Zollverein

Nach drei Kilometern Zick-Zack-Lauf ist mit der Zeche Zollverein nicht nur der erste Stimmungs-Schmelztiegel, sondern auch die Streckenteilung erreicht. Die Halbmarathonis haben uns verlassen. Wir passieren menschenleere Innenstadtbereiche, verlassen wirkende Gewerbegebiete, einen riesigen Schrottplatz, aber auch jede Menge grün bewachsene Bereiche. Und ich frage mich, welchen Charakter dieser Lauf eigentlich hat. Ist es ein City-Marathon ohne Zuschauer oder ein Landschaftslauf auf Asphalt? 


Auf jeden Fall ist das Höhenprofil der ersten Hälfte einem Landschaftslauf durchaus angemessen, gibt es doch manchen Anstieg, wovon einer sogar als steil bezeichnet werden kann. Bis Kilometer 18 müssen wir wohl eine ganze Weile unmerklich, aber stetig an Höhe gewonnen haben. Wir sind langsamer geworden, aber für eine 3:45 immer noch zu schnell. Trotzdem haben uns die 3:45-Hasen eingeholt und ziehen uns davon!

3:45-Pacemaker

Rossmann vs. Powerbar

 

Allmählich wird es anstrengend. Ich frage mich, ob ich bei der Wärme dieses Tempo wirklich bis ins Ziel halten kann. Und auch Friedel signalisiert mit einer ersten Gehpause an der nächsten Verpflegungsstation, dass ihm Profil und Temperatur zu schaffen machen. Und so bestaunen wir erstmal ausgiebig das reiche Angebot, dass der Veranstalter aller drei Kilometer für uns bereithält. Neben Wasser sind Iso, Cola, Äpfel und Bananen vorrätig. Ich bleibe heute bei Wasser und teste Gels von Rossmann. Die Geschmacksrichtungen „Cherry/Banana“ und „Lemon“ habe ich dabei. Beide erweisen sich als äußerst lecker und bekömmlich. Und ich habe mir jahrelang dieses Zeug von Powerbar runtergeekelt!

Bald ist die Halbmarathonmarke erreicht. Zu erkennen ist sie lediglich an der roten Matte des Zeitmess-Systems, die quer über die menschenleere Straße eines verlassen in der Mittagssonne brütenden Wohngebiets liegt. Immerhin zeigt wenigstens die SPD Präsenz. Sie hat in der Nähe einen Stand an der Strecke aufgebaut und hofft wohl auf ein paar Stimmen aus der Läuferschar. 

Zwei Gesichter

 

Doch in der zweiten Hälfte offenbart der Lauf sein anderes Gesicht. Jetzt sind öfter Zuschauer an der Strecke, die auch begeistert Anteil nehmen. Und wir laufen durch sehenswerte, historische Arbeiterwohnviertel, die aufwändig saniert erscheinen. Immer wieder kommen wir auch durch die hier typische, industriegeprägte Landschaft. Mittlerweile glaube ich, dass es diese Landschaft ist, die das Besondere dieses Laufs ausmacht.

Pferdekoppel im Ruhrgebiet


Acker vor Fabrik-Kulisse

Scott

 

Und dann kommt der Scott-Moment. 

Auf dem Rückweg vom Südpol, den Scott nur als Zweiter nach Amundsen erreichte, schleppt sich seine Truppe demoralisiert, entkräftet und halbverhungert durch den Schneesturm. Einer seiner Mannen kann das Tempo der Gruppe nicht mehr halten und erkennt, dass keiner das Ziel erreichen wird, wenn die anderen ihn weiter mitnehmen. Also stielt er sich nachts aus dem Zelt und legt sich zum Erfrieren nach draußen

Den gleichen Team-Geist zeigt Friedel, indem er mich mehrfach auffordert, schon mal vorauszulaufen. Da man sich heute um Erfrierungen keine Sorgen machen muss, komme ich bei Kilometer 30 seinem Angebot nach. 

Hasenjagd

 

Rechts steht ein kleiner Junge am Rand und hält den Luftballon der 3:45-Hasen in der Hand. Was mag aus den zu schnellen Hasen geworden sein? Mussten sie aufgeben, so wie der Tempomacher beim 2012er Hitze-Marathon an der Oberelbe? Das möchte ich jetzt ganz gerne noch herausfinden und beschleunige leicht. Viele Rückansichten, an denen ich jetzt vorbeiziehe, kommen wir bekannt vor. Ihre Träger haben sichtlich mit der Hitze zu kämpfen. Ein Läufer sitzt unter einem Baum im Schatten. Andere schleppen sich mit Leidensmiene weiter. 

Nordstern

 

Der Nordstern-Park erweist sich nochmal als Stimmungs-Hochburg. Und ich halte für einen letzten Foto-Stopp. Vor der Verpflegungsstation gilt es, einen kleinen Anstieg auf sehr löchrigem Kopfsteinpflaster zu absolvieren. Der raubt nochmal Kraft. Auf der langen Geraden danach, die links und rechts bis zum Ende dicht mit Plastikbechern gesäumt ist, bin ich der Einzige, der dort im Laufschritt unterwegs ist.

Nordsternpark

Wir sind das Ruhrgebiet!

Flow

 

Meine Stimmung steigt und die am Streckenrand tut es auch. Die Bewohner eines Altenheims sitzen in Rollstühlen auf der Straße und klatschen. Die Zuschauer rufen mir anfeuernd einfach die Zahlen meiner Startnummer zu, da ich als Nachmelder die Version ohne Namensaufdruck trage. Vor einer Behinderteneinrichtung erhalte ich die Einladung einer jungen Frau: „Du kommst zu mein‘ Geburtstag!“ Bei Kilometer 39 meint eine andere Zuschauerin: „Das sieht aber noch locker aus!“ Und irgendjemand staunt: „Und das sogar in Barfuß-Schuhen!“ Jede dieser positiven Rückmeldungen genieße ich freudig und laufe mit einem gefühlten Dauergrinsen Richtung Ziel – vollkommen im Flow.


Der Mann mit der Mega-Tröte sorgt für gute Laune bei den Läufern

Bei Kilometer 40 stoße ich auf einen der beiden 3:45-Zugläufer. Sein ihm verbliebenes Gefolge besteht noch aus genau einem Mann. Im Ziel werde ich hören, dass Zugläufer Nr. 2 unterwegs ins Gehen gewechselt hat.

Party

 

Doch vorher kommt noch die phantastische Zielgerade. Mir scheint es, als ob ich ganz allein durch das Spalier einer tobenden Menschenmenge laufe und alle nur für mich völlig aus dem Häuschen geraten. Da ist es fast schon schade, dass dieses Fest mit Erreichen des Zielbogens vorbei ist.

Blick zurück zum Ziel


Für ein Fest ist auch auf der Verpflegungsmeile eingedeckt. Müsliriegel, Äpfel, Bananen, Kuchen und Brot sind reichlich vorhanden. Das frische Brot kann man wahlweise zusätzlich mit Butter und Salz genießen. Und jeder der überaus zahlreichen, fast schon gelangweilten Helfer hat ein Lächeln und ein nettes Wort parat. Nur die Mädels am Erdinger-Stand sind vollbeschäftigt. Doch auch der 5:30-Finisher bekommt noch sein Weizen. Friedel und ich können uns persönlich davon überzeugen, denn die Verpflegungsmeile ist Teil des großzügigen Nachzielbereiches und kann auch nach dem Duschen und der Massage noch einmal aufgesucht werden.
So backt der Pott!
Die große Anzahl der Helfer macht eine Besonderheit möglich. An der Kleiderbeutelausgabe steht ein Mitarbeiter quasi im Ausguck und ruft die Nummern herannahender Läufer aus. Dadurch halten die anderen Unterstützer den inzwischen herausgesuchten Beutel schon bereit, wenn der Sportler in der Garderobe eintrifft.

Fazit

 

Die Organisation erlaubt also durchaus noch wachsende Teilnehmerzahlen. Für Läufer aus dem Pott ist die Teilnahme ohnehin Pflicht. Alle anderen können hier die einzigartigen Industrie-Kultur-Landschaften und die bodenständige Herzlichkeit der Einwohner kennenlernen – jedenfalls auf der zweiten Hälfte. Vielleicht ist das ein Grund, beim nächsten Mal beim Halbmarathon zu starten.


11 Kommentare:

  1. Wie immer sehr schön beschrieben. Auch wenn ich mich auf der Straße nicht so wohl fühle, werde ich diesen Mara sicherlich irgendwann auch noch mal laufen... wie du schon sagst, als Pottler ohnehin Pflicht! ;-)

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    1. Danke, auf jeden Fall ist der Lauf irgendwie "anders" und somit einzigartig.

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  2. Ach ja, die Leiden des Läufers in der Hitze
    du hast dich wacker geschlagen
    Glückwunsch
    und wenn der Zugläufer schon platt ist
    dann muss es wohl heiß gewesen sein
    das habe ich
    ehrlich gesagt
    noch nie gehört
    aber die Hitze zwingt so manchen in die Knie
    ich kann da gut verstehen !

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  3. Danke. Ich bin erst zweimal mit Zugläufern unterwegs gewesen. Und jedesmal ist einer des Duos ausgefallen.
    Und beide Male wurde anfangs zu schnell gelaufen.

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  4. Auch Zugläufer sind eben keine Maschinen und fallen mal aus. Ist bei solchen Verhältnissen auch irgendwie menschlich und nachvollziehbar.
    Toller Bericht mal wieder!

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    1. Danke Markus!
      Als jemand, der sich einem Zugläufer anvertrauen möchte, sollte man derartiges mit berücksichtigen.

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  5. Danke für den Bericht! Das schien ja wirklich eine "Hitzeschlacht" gewesen zu sein... Dass der Lauf profiliert ist, war mir nicht so bewusst, dennoch, das Flair könnte mir gefallen. Auch hätte ich auf mehr Teilnehmer getippt. Die Startverzögerung - nervig. Die "Vorwarnung" bei den Kleiderbeuteln - klasse!
    Mir scheint, ein durchwachsener Lauf...?
    Liebe Grüße
    Elke

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  6. Ach, und das Wichtigste: Glückwünsche, dass Du durchgehalten hast, besser sogar, als mancher Zugläufer!!

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    1. Hallo Elke, danke für die Glückwünsche!
      Irgendwo habe ich etwas von 150 Hm gelesen - ist ja eigentlich nicht so viel. Auch 22 Grad im Schatten sind nicht übermäßig heiß, aber beim Laufen in der Sonne ist manchem doch warm geworden.
      Insgesamt gab es wohl mehr als 7000 Finisher, die Menge in den Startblöcken vor uns war schon beachtlich.
      Als Jahres-Haupt-Event würde ich den Lauf nicht empfehlen. Bestzeiten läuft man dort sicher nicht. Aber wenn man in der Nähe wohnt, sollte man diese spezielle Mischung auf jeden Fall mal erlebt haben.
      Ich habe immer gedacht, dass die Zugläufer mindestens eine halbe Stunde Reserve auf ihre Bestzeit aufschlagen. Offenbar ist das nicht immer der Fall.

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  7. Wow, mal eben einen Marathon als langen Wochenendlauf aus dem Handgelenk zu schütteln und dann auch noch in einer solchen Zeit - ich bin tief beeindruckt!
    Die Organisation scheint ja - abgesehen von der Startverzögerung - recht gut gewesen zu sein.
    Danke für den schönen Bericht!
    Viele Grüße,
    Thomas

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    1. Am Beispiel meines spontanen Teilnahmeentschlusses fiel mir selbst auf, wie sich die Dinge ändern. Fieberte man früher monatelang einem Marathon als Saison-Höhepunkt entgegen, kann heute die Strecke auch mal als Trainingslauf absolviert werden. Das eigentlich Besondere für mich ist aber dabei, dass ich es geschafft habe, auch mal entspannt, ohne Zeitdruck, zu laufen. Diese Läufe werden künftig weiter mein Repertoire abrunden!

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