Auf der Marathonmesse |
Radio Jerewan antwortet
September 2012. Die Lauflust ist groß, die berufliche Belastung ist es auch. Die Situation verlangt einen Spagat - eine eher läuferuntypische Disziplin. Doch wollte ich nicht schon immer mal Genussläufer sein und ohne Blick zur Uhr einen Marathon laufen? Ein Marathon als Volksfest und ich unter den Feiernden? Spontan lasse ich alle Bestzeitenpläne fahren und fahre selbst auch - nach Berlin. Spontan nach Berlin? Muss man da nicht ein Jahr im Voraus um einen Startplatz kämpfen? Radio Jerewan antwortet: "Im Prinip ja, aber Startnummern gibt es auch bei ebay." Für 50 Euro bekomme ich nicht nur Kontakt zu einem sehr netten, unglücklich verletzten Bruder im Geiste, sondern auch einen Startplatz in der richtigen Altersklasse und im passenden Startblock. Sogar die Hotelreservierung kann ich übernehmen! Diese Art der "Nachmeldung" funktioniert nur, weil mir der Verletzte neben den Anmeldeunterlagen auch seinen Chip zusendet. Den muss ich beim Abholen der Startunterlagen auch tatsächlich vorzeigen. Unter eigener Pulsmesser-Flagge kann ich bei diesem kreativen Verfahren nicht laufen. Mit etwas Bildbearbeitung werde ich es aber später immerhin schaffen, meinen Namen auf die Urkunde zu applizieren.
Weiter hinten dürfen Sie
Die für mich glücklichen Umstände setzen sich fort. Windstille verbindet sich auf ideale Weise mit Sonne. Die brilliert am blauen Himmel, jedoch ohne dabei die Temperatur über Gebühr zu erhöhen. In Kombination mit der flachen Berliner Strecke bieten sich ideale Bestzeitbedingungen. "Soll ich nicht vielleicht doch?", wagt sich der ambitionierte Läufer in mir keck hervor. "Nein, wir wollen doch heute feiern!", gibt der Genussläufer trotz seiner Unerfahrenheit selbstbewusst zurück. Und so trägt es sich zu, dass ich mich freiwillig in einen Startblock weiter hinten begebe. Das erregt etwas Aufmerksamkeit bei der Kontrolle: "Weiter hinten dürfen Sie natürlich!"
Kontrollverlust
Als Stressvermeider bin ich so zeitig am Start, dass ich den unablässigen Strom der Ankommenden staunend bewundern kann. Er reißt auch kurz vorm Startschuss nicht ab. Längst ist der Block brechend voll, ein Zugang nur noch über die Absperrung möglich. Niemand kann hier jetzt noch das Geschehen kontrollieren. Auch ich drohe die Kontrolle zu verlieren - über meine Blasenfunktion. Not(durft)gedrungen gebe ich meinen Platz auf, quere durchs Gewühl, flanke über die Ballustrade und suche den nächsten Baum. Unterwegs staune ich über die riesigen Textilberge. Was gestern noch als nobles Funktionstextil der Zier des mageren Läuferleibs diente, wird jetzt auf dem Wettkampfaltar als Altkleidung geopfert.
Start
Rechtzeitig zum Startschuss habe ich mich wieder ins Feld gedrängt. Doch es passiert nichts. Minutenlanger Stillstand, so kommt es mir vor. Irgendwann erfasst die Vorwärtsbewegung auch unsere Reihen. Die Startlinie entlässt uns in die Weiten der Berliner Chausseen. Nie zuvor lief ich mit so vielen Begleitern vor, hinter, aber vor allem neben mir. Die breiten Straßen können die Menge fassen. Nie kommt es - ganz anders, als vermutlich sonst hier üblich - zu Stau.
High-Five
Irgendwann erkenne ich, dass ich die Stimmung an der Strecke viel besser aufsaugen kann, wenn ich nicht mitten im Pulk, sondern am Straßenrand laufe. Nach ein paar Kilometern passiere ich einen wahren Schmelztiegel. Hier johlt und jubelt alles. "Den Straßennamen musst du dir merken und hinterher mal nachsehen, was das hier für ein geiles Viertel ist.", denke ich. Doch bald dämmert es mir, dass die Party ab jetzt bis ins Ziel überall so weitergehen wird! Ich klatsche jede Kinderhand ab. Einmal gibt mir eine strahlende Omi High-Five. Die Leute schreien begeistert immer denselben Namen. "Wer ist dieser Kerl?", versucht mein blutarmes Gehirn zu ergrübeln. Irgendwann kapiere ich, dass der Vorname des rechtmäßigen Inhabers meiner Startnummer auf meiner Brust prangt. Die Leute meinen mich, sie feuern mich an!
Schnelle 2. Hälfte
Die Hälfte ist geschafft, ich fühle mich prächtig. Ein Dauergrinsen hat sich mittlerweile auf meinem Antlitz breitgemacht. Diesen Gesichtsausdruck verstärke ich ab jetzt, indem ich nun beschleunige. Wer schon einmal in den hohen Dreißigern eingebrochen ist (und wer ist das nicht), weiß um die elende Befindlichkeit des Überholtwerdens. Ich erlebe heute die andere Perspektive. Und das ist eine Wonne!
Der Motherfucker und Herr Strunz
"Go! Go!", höre ich jemanden immer wieder laut schreien. "Go, motherfucker, go!" Ein schwarzer Athlet versucht sich auf diese Weise selbst anzutreiben. Ob er den Atem nicht besser ins Laufen investiert hätte? Andere sind noch übler dran, gehen oder stehen gar. Die meisten quälen sich mit verzerrtem Gesicht voran. Mein Kontrast-Gegrinse erinnert mich an den - seit seinem Sturz in die mallorquinische Schlucht - etwas in Vergessenheit geratenen Laufguru Strunz. Der appellierte einst: "Laufen Sie und Luxusverwöhnen Sie damit ihren Körper! Traben sie locker, leicht und lächelnd!" In Strunz'scher Manier bewege ich mich heute Richtung Ziel.
Historischer Moment
Brandenburger Tor* |
*Foto by Thomas Wolf, www.foto-tw.de (Own work) [CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons
Ja, das liest sich richtig gut
AntwortenLöschenkommt mir irgendwie auch sehr bekannt vor
bin ich doch in 1990
bei ersten gemeinsamen Marathon Ost-West
mit Gänsehautfeeling durchs Brandenburger Tor gelaufen
und fast mit der gleichen Zeit
3:18
im Ziel überglücklich gelandet
war im Gegensatz zu dir
mit meiner Zeit äußerst zufrieden
Männer halt
unvergessliche Erinnerungen - YES !
Es muss nicht immer eine Bestzeit sein, um glücklich ins Ziel zu laufen. Muss man auch erst lernen. Denn unvergessliche Momente sind es doch immer, die man bewusst genießen sollte.
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