Immer wieder stelle ich mir die Frage, ob ich mich überhaupt noch zu den Ultraläufern zählen darf. Der letzte längere Lauf war die "Kölsche Naachschicht". Seitdem bin ich nicht über 36 km hinausgekommen. Schlimmer noch, ich musste mich quälen, um überhaupt eine derartige Distanz zustande zu bringen. Beim Rothaarsteig-Ultratrail will ich heute eine Antwort auf die Frage finden.
Bei diesem von Matthias privat organisierten Lauf stehen zwei Distanzen zur Auswahl:
- 61 km mit 1780 Hm und
- 82 km mit 2340 Hm
Nach einem reichhaltigen Frühstück, das Tanja (des Veranstalters Ehefrau) im kürzlich erworbenen Eigenheim der Organisator-Familie serviert, finden sich die etwa 20 Starter im Wohnzimmer zum Briefing ein. Eigentlich soll auf dem großen Flachbildschirm eine Präsentation abgespielt werden. Da die Technik streikt, begnügen wir uns mit einem Hand-Out. Darin werden Jagdaktivitäten und Sprengungen durch die Firma "Dynamit Nobel" auf dem Kurs erwähnt. Außerdem sind Rollator-Fahrer zu sehen, die sich über eine Ziellinie kämpfen. Neben derlei motivierenden Tatsachen, fällt noch der entscheidende Satz: "Wenn irgendwo kein Weg zu sehen ist, gilt der Track. Dann bin bisher nur ich dort lang gelaufen, und ihr seid die nächsten."
Direkt mit dem Startsignal setzt sich ein hochmotivierter Läufer nach vorne ab und ist nach wenigen Minuten aus dem Sichtfeld entschwunden. Auch die restliche Truppe zieht sich schnell auseinander, nur um an der ersten Weggabelung wieder zusammenzufinden. Geht es nach rechts? Nein. Die GPS-Receiver melden Track-Abweichung. Nach links? Hier das gleiche Spiel. Verzweifelt suchen wir nach einer Alternative, bis uns der wichtige Satz aus dem Briefing in Erinnerung gerät. Der Trupp bahnt sich einen Weg durch den Bewuchs, der hier inzwischen über einem noch zu erahnenden alten Pfad wuchert. Es wird eine Weile dauern und viele Beinahe-Verlaufer kosten, bis wir das Schema verinnerlichet haben und gleich in die schmalste Weg-Variante abzweigen, die sich bietet. Denn genau die hat der Trackmaster für uns jeweils herausgesucht.
Was folgt, ist ein Single-Trail-Traum. Asphalt bekommen wir nur bei den ganz wenigen Straßenquerungen zu Gesicht. Selbst normale Waldwege sind hier die Ausnahme. Fast immer geht es auf schmalen, oft wurzeligen, Pfaden dahin. Manchmal fehlt der Weg ganz. Trailrunner's Paradise!
Der Weg |
Meine Rettung ist mein Begleiter. Anfangs waren wir noch in einem Trupp von vier bis fünf Läufern unterwegs. Seit VP2 hat sich die Gruppe auf ein Duo reduziert. Nur mit der Wurmnavigation auf seiner Suunto bemerkt mein Kompagnon jede Streckenabweichung sofort. Ich hingegen, der ich sowohl die Fenix3 mit dem Track bestückt habe, als auch ein Garmin-Gerät mit Kartendarstellung mitführe, finde bis zum Ende des Rennens nicht so richtig in mein altes Navigationsvermögen hinein. Es liegt wohl an der Altersweitsichtigkeit, die mich die Displays nicht mehr ohne Anstrengung erkennen lässt. Mit diesem Problem dürfte ich ja wohl kaum allein sein und frage mich, wie andere das lösen. Mit Lesebrille rennen?
Die Schnittmenge aus Historikern und Ultraläufern dürfte nicht allzu groß sein. Dennoch ist mein Mitläufer bereits der zweite Vertreter dieser Gruppe, den ich kennenlerne. Nachdem wir uns zunächst stundenlang mit Läufergeschichten unterhalten haben, stellt sich heraus, dass er Technik-Historiker ist. Als Ingenieur reizt mich das Themenfeld natürlich ebenfalls. So diskutieren wir die Vor- und Nachteile herkömmlicher Fieberthermometer gegenüber den heute üblichen elektronischen Varianten. Und schon sind wir am Entscheidungs-VP3. Gerne hätte ich unsere kurzweilige Unterhaltung fortgesetzt. Doch der Historiker möchte den Führenden jagen, dessen Vorsprung von 20 Minuten an VP2 nun auf 15 Minuten geschrumpft ist.
Damit bin ich der Erstplatzierte auf der 61-km-Strecke. Die Position will ich besser nicht gefährden und halte meinen Stopp entsprechend kurz, obwohl es angesichts der aufgetafelten Köstlichkeiten schwer fällt. Das Angebot reicht von Gurke, Tomaten, Salz, Äpfeln und Bananen bis hin zum selbstgebackenen Kuchen. Neben Wasser und Cola gibt es auch Bier, Tee und Kaffee. Und diese Aufzählung ist keinesfalls vollständig!
Ich nehme mir zwei Käsebrote (meine absolute Lieblingsspeise bei einem Ultra) mit und ziehe von hinnen. Auf geradem Waldweg trotte ich schmatzend dahin. Da wir bisher jeden Anstieg konsequent gegangen waren, geht es mir nach 42 Kilometern noch richtig gut. Ich genieße das herrliche Sommerwetter und die wunderbare Natur. Und schon habe ich mich verlaufen!
Jetzt, auf mich allein gestellt, muss ich der Wegfindung noch mehr Aufmerksamkeit schenken. So kann ich ein paar Kilometer später mein nicht vorhandenes Rheuma kurieren, als mich der Track durch hüfthohe Brennnesseln schickt. Die letzten sieben Kilometer werden dann doch noch richtig schwer. Die Sonne brezelt auf meinen schweißüberzogenen Körper. Obwohl die Höhenmeter laut Track längst im Sack sind, baut sich ein Anstieg nach dem anderen vor mir auf. Und nach 61 Kilometern, als ich längst da zu sein hoffe, prognostiziert der Track noch immer zwei Kilometer bis zum Ziel.
Dort, in Tanjas Küche, treffe ich letztlich nach 7:46:13 ein und genieße den ganz persönlichen Nachzielbereichs-Service der Hausherrin, die meinen Körper mit Kuchen, Bier und Kaffee wieder aufpäppelt. Zur mentalen Erbauung bekomme ich die Goldmedaille umgehängt. Damit dürfte ich die gesuchte Antwort gefunden haben.
Und wieder einmal spitzenmäßig abgeliefert! Der Körper baut eben doch nicht so schnell ab und wenn es darauf ankommt kann man abliefern
AntwortenLöschenJa, irgendwie hat es gereicht ;-)
LöschenGab es denn Nobel- oder Jagdbedingte Ausfälle zu verzeichnen? Und welche Fiebermessmethode ist nun die bessere???
AntwortenLöschenJesses, bei solchen Rahmenbedinungen dann noch verwachsene Trails zu identifizieren, das liest sich als ziemliche Herausforderung. Aber in Deinen Zeilen spürt man, dass es genau deswegen für Dich traumhaft war. Nächstes Mal dann die Langvariante?
Glückwunsch zur errungenen Medaille!
Liebe Grüße
Elke
Danke, Elke! Ausfälle kamen mir nicht zur Kenntnis, ich blieb aber nicht bis zum Ende der Veranstaltung.
LöschenDie beste Messmethode ist aus Anwendersicht möglicherweise eine andere als aus Ingenieurssicht. Wir kamen über die Pulsmessung am Handgelenk drauf, die ja furchtbar praktisch, aber auch furchtbar ungenau ist.
Die Veranstaltung ist auf jeden Fall einen zweiten Besuch wert. Doch wer weiß, wo und wie lange ich nächstes Jahr laufen können werde ...
Also die Vorstellung, wie du ohne Lesebrille den Track suchend und über Fieberthermometer fachsimpelnd versuchst, den Weg zu finden, ist schon echt witzig :-)))
AntwortenLöschenUnd es hat ja auch noch funktioniert.
Herzlichen Glückwunsch zur Goldmedaille.
Und die Frage, warum du kein Rheuma hast, ist ja wohl auch beantwortet: du watest bei solchen Veranstaltungen wahrscheinlich oft genug durch hüfthohe Brennnesseln.
Da kann ja wohl keiner mehr bezweifeln, das Sport gesund ist :-)
Liebe Grüße
Helge
Eben, da braucht man gar kein Fieberthermometer!
LöschenGöttlich, ein Traum! Ich stehe auf Strecken, die nach dem Prinzip ausgewählt wurden: "Gibt es mehrere Alternativen, so ist der Weg ist immer dort, wo es am wenigsten nach Weg aussieht."
AntwortenLöschenGlückwunsch zum Finish!
Ciao,
Harald
Danke, Harald!
LöschenGlückwunsch zum Finish dieses offenbar sehr schönen Ultras. Der Nachzielbereich Tanjas Küche ist hier mein Highlight. Aber diese Lesebrille-Sache gibt mir ebenfalls zu denken, da bleib ich doch einfach bei meiner Ambit3 und verzichte weiterhin auf bunte Minikarten.
AntwortenLöschenDanke, Oliver! Ich denke auch, dass ich mir keine Fenix5 mit Kartendarstellung zuzulegen brauche. Da sehe ich dann gar nichts mehr ;-)
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