Montag, 15. Februar 2016

Läuferromantik am Valentinstag – Der Marathon in Bertlich



Aushang in Bertlich

Warum läuft man denn einen Marathon in Bertlich? Hier ist doch nichts!“ Als ich meinem Gegenüber in der Pausenhalle der Bertlicher Straßenläufe erkläre, dass es sich nur um einen langen Trainingslauf handelt, ruft sie aus: „Ach, dann sind Sie wohl ein Ultra?!

Statt den Valentinstag romantisch mit meiner Pulsmesserin zu verbringen, lasse ich mich heute von einer anderen Frau ausführen. Gladys, die schnellste Frau Ratingens, hat mich zu einem gemeinsamen Marathon eingeladen, den wir als flotte, lange Trainingseinheit gestalten wollen. Sie hat dafür einen genauen Plan ausgeklügelt. Insgesamt soll ein 5er Schnitt gelaufen werden. Wir wollen aber langsamer beginnen, um die Verspätung dann auf der letzten der drei Runden mit einer furiosen Endbeschleunigung zu kompensieren.

Ein Kontrolleur des DLV durchstreift das Starterfeld und achtet darauf, dass jeder seine Startnummer sichtbar trägt. Ein Läufer muss deshalb seine Regenjacke öffnen. Bei einem Grad über Null und Nieselregen ist das eher unangenehm. Trotz des Wetters haben sich knapp 100 Unerschrockene an die Startlinie gestellt. Als die Stampede losbricht, kommt es zu einem derartigen Gedränge, dass ich Mühe habe, auf den Beinen zu bleiben. Doch schon nach ein paar Hundert Metern hat sich das Feld sortiert. Man scheint uns als 3:30-Hasen auserkoren zu haben. Ein Blick zurück offenbart, dass wir einen kleinen Trupp hinter uns versammelt haben. Ein Herr läuft direkt mit uns und berichtet, dass er einst den Geburtstag seines zwölfjährigen Sohnes vergaß, weil er an dem Tag einen Marathon lief. Da kommt mir mein Valentinsfremdgehen gleich nicht mehr ganz so unsensibel vor, zumal meine Frau heute ebenfalls in Sachen Wettkampf unterwegs ist.

Bald ist uns nur noch ein Begleiter geblieben, der treu in unserem Windschatten mitläuft. Eigentlich sei ihm das Tempo zu hoch, meint er. „Aber eure  Gespräche sind so interessant!“ Tatsächlich unterhalten wir uns ununterbrochen und bestens gelaunt. Besonders amüsiert mich eine Anekdote von Gladys' letztem Marathon. 

Sie wähnt sich schon sicher auf dem Sieger-Podest, da erblickt sie kurz vorm Ziel plötzlich noch zwei Läuferinnen vor sich. Mit letzter Kraft überholt sie die beiden im Endspurt. Die laufen im Ziel jedoch völlig unbeeindruckt weiter. Sie haben noch eine Runde vor sich!

Ich kümmere mich nicht um irgendwelche Kilometerschilder und überlasse die Tempovorgabe meiner Begleiterin. Wie früher beim Einkaufen mit meiner Mutter bin ich heute „nur mit“. Ich teste stattdessen ein neues Anzeige-Feld auf meiner Fenix-3, das ich am Vorabend heruntergeladen hatte. Es prognostiziert unsere Zielzeit basierend auf einem nicht näher spezifizierten Algorithmus, der wohl nicht nur die bisherige Durchschnittsgeschwindigkeit, sondern auch die aktuelle Pace irgendwie mit einbezieht. Die Anzeige steht vom Start weg deutlich unter 3:30. Der Plan, zunächst etwas langsamer zu beginnen, wird von der Startnummer auf der Brust zunichte gemacht. Umso schneller werden wir später laufen müssen, wenn wir tatsächlich eine Endbeschleunigung als Trainingselement einbauen wollen.

Rundenzeiten frisch aus der EDV
Erwartungsgemäß versiegt unser Redefluss in den Dreißigern dann doch ein wenig, als Gladys Ernst macht und das Tempo verschärft. Inzwischen hat sich der Regen verstärkt und mit ein paar Schneeflocken vermischt. Mein Füße sind mittlerweile genauso nass wie die kalten Hände in den durchweichten Handschuhen. Mit Mütze, kurzem Hemd über dem Langarm-Shirt und langen Hosen waren wir bisher ganz gut ausgerüstet. Doch jetzt wollen wir endlich ins Trockene und überholen eine bekannte Rückansicht nach der anderen. Dabei stellt sich heraus, dass Gladys genauso tickt wie ich. Immer wieder benennt sie ein markantes Hemd im Feld vor uns als nächstes Zwischenziel.

Bitte bleibe bei mir und laufe mir nicht weg!“, höre ich von der Frau an meiner Seite. Treueschwüre sind ja am Valentinstag nichts Ungewöhnliches. Und so gelobe ich bei Kilometer 39, dass wir bis zum Ende zusammenbleiben werden. Das kann ich leichten Herzens tun, denn in Wirklichkeit habe ich Mühe, mit meiner Begleiterin Schritt zu halten, als sie sich anschickt, auf den letzten drei Kilometern abermals zu beschleunigen.

Der Weg vor uns wird links und rechts von großen Pfützen gesäumt. Das schmale, dazwischen verbliebene Band ist von zwei nebeneinander gehenden Mitstreitern belegt. Wir sind ohnehin schon nass. Also pflügen wir in vollem Galopp durch die Pfützen. Dabei geraten wohl auch einige Spritzer aufs Beinkleid der überholten Dame. Sie schimpft uns lautstark hinterher.

Kurze Zeit später wird uns schon wieder etwas zugerufen! Nur ist der Ton diesmal wesentlich freundlicher. Der Moderator nennt unsere Namen und annonciert Gladys als zweite Frau. Dann höre ich da noch etwas von einem „messerscharfen Läufer“. Huch, kennt mich hier jemand? Ja, Oliver Witzke steht an der Strecke und macht Fotos.

Im Stadion, ein paar Meter vor der Ziellinie, schaue ich nochmal nach der Zielzeitvorhersage an meinem Handgelenk. Die Prognose lautet 3:22, obwohl wir ein paar Sekunden später in 3:24:21 den Lauf beenden. Dieses Orakel kann ich wohl getrost wieder von der Uhr löschen.

Pokal auf Urkunde
Und noch ein Ausrüstungsgegenstand hat heute seine Untauglichkeit bewiesen. Da ich meistens in Trailschuhen unterwegs bin, muss ich für die „Tortour de Ruhr“ noch ein paar Straßenschuhe einlaufen. Mit dem New Balance MT 10 war ich im Gelände hochzufrieden, so dass ich die Straßenvariante MR 10 auserwählte. In Kevelaer hatten sich die Schlappen ganz unauffällig verhalten. Doch heute, im regennass aufgequollenen Schuhwerk, stieß mein rechter Mittelzeh immer wieder gegen einen Widerstand, bis sich der Nagel blau verfärbte. Eine nachträgliche Inspektion ergibt, dass im Innenfutter in etwa 5 mm Abstand von der Schuhspitze eine Naht verläuft. Das muss wohl die Wurzel des Übels sein.

Über derlei Ungemach tröstet hinweg, dass wir heute beide unsere Altersklasse gewonnen haben und bei der Siegerehrung einen Pokal in Empfang nehmen dürfen. Das nennt man wohl Ironie des Schicksals. War ich doch im September 2014 grandios gescheitert, als ich extra hierher reiste, um eben jenen Pokal auf der Marathondistanz zu erheischen. Nach klassischem Einbruch musste ich mich damals furchtbar quälen, um wenigstens noch sub 3:30 zu finishen. Und heute, bei einem recht locker und freudvoll absolvierten Trainingslauf, bin ich am Ende nicht nur eher im Ziel, sondern auch noch glücklicher Pokalist!



Mittwoch, 3. Februar 2016

Hivernaltrail 2016 – Ein Lauf mit Hindernissen


Als wir auf der Anfahrt zum Hivernaltrail an der längsten Treppe Hollands vorbeikommen, weise ich aus dem Fenster und lasse – betont beiläufig – den Satz fallen: „Da müssen wir gleich hoch.“ Ralf, der „Holland“ mit „flach“ assoziiert hatte, beginnt zu ahnen, dass sich auf den 30 Kilometern auch ein paar Höhenmeter akkumulieren werden. Was wir beide noch nicht wissen, es werden 760 davon zusammenkommen.
 
Längste Treppe Hollands, Wilhelminaberg (2015)
Kurz vor Elf halten wir unsere Startnummern in den Händen und ahnen noch nichts von dem sich anbahnenden Ungemach. Im Gegenteil, fröhlich applaudieren wir den Startern um 11 Uhr, in der Annahme, dass sich hier – wie in der Ausschreibung vorgesehen – die 19-km-Läufer auf ihren feuchten Weg machen.

Es hatte am Vortag zwar einen langen Newsletter in niederländischer Sprache gegeben. Darin wurden auch, ganz unten, die Startzeiten erwähnt. Dass sich diese gegenüber dem ursprünglichen Plan geändert hatten, war aber weder extra erwähnt, noch einem von uns aufgefallen. Erst kurz vor halb Zwölf werden wir gewahr (danke, Matthias!), dass unser Start von 11:30 Uhr auf um 11 vorgezogen worden war!

Nach kurzer Diskussion mit dem Zeitnehmer schaltet dieser für uns noch einmal die Nettozeitmessung scharf. Wir starten mit 19-minütiger Verspätung. Meine Laune ist im Keller. „Was ist denn das jetzt noch für ein Wettkampf? Da hätte ich ja gleich alleine den Track ablaufen können! Und von den kostenlosen Rosinenbrötchen für alle Starter haben wir auch keins mehr abbekommen.“ Müsste ich nicht laufen, könnte ich ja gleich mal trotzig mit dem Fuß aufstampfen. Ich bin wohl schon wieder bockig. Besonders ärgert mich, dass wir im Ziel auch nicht die in Aussicht gestellte Medaille erhalten werden. Weil der Hersteller „2015“ auf das Band des von mir so begehrten Bleches gedruckt hat, soll uns korrigierter Ersatz später per Post zugestellt werden.

Doch schon nach wenigen Metern versöhnen mich die Hindernisse, die die geniale Strecke bereit hält, mit den organisatorischen Hindernissen. Die 93 Meter hohe Treppe am Wilhelminaberg zwingt uns schon nach wenigen ihrer 508 Stufen in die Knie. Gehend bewältigen wir das 248 Meter lange Ungetüm. Vermutlich wären wir nicht einmal dann im Laufschritt hinauf gekommen, wenn danach keine weiteren 30 Kilometer auf uns warten würden.

Das Treppenende markiert auch das Ende befestigter Wege. Ab jetzt geht es auf Pfaden durch nasse, schwarze Schlacke. Zwei oder dreimal müssen wir die Halde – ein Zeugnis des ehemaligen Steinkohlebergbaus – rauf und runter. Als ich nach fünf Kilometern die Schlußläufer des Felds erreiche, mache ich mich als nächstes auf die Steilwand gefasst. Im Vorjahr mussten wir die Flanke einer Kiesgruppe erklimmen. Vielleicht war es auch ein eiszeitliches Relikt. Jedenfalls war es so steil, dass der Veranstalter Seile am unmittelbar darauf folgenden Abstieg befestigt hatte. Aber dieses Jahr scheint es keine Steilwand zu geben.

Stattdessen finde ich mich schon bald am gähnenden Abgrund wieder, der mir noch in guter Erinnerung ist. Rutschte ich hier vor 12 Monaten noch ärschlings zu Tale, so gibt es jetzt ein Seil, das mich sturzfrei eine Etage tiefer geleitet.
 
Der gähnende Abgrund
Verwirrung kommt am ersten VP auf. Ging es nicht letztes Mal links rum? Offenbar laufen wir heute die Schleife in der Gegenrichtung. Abwechslung muss sein! Schon allein die Bodenbeschaffenheit sorgt dafür. Es läuft sich deutlich leichter. Nicht, dass nicht genug Schlamm da wäre. Aber klebte man im Vorjahr beispielsweise bei der Passage über das Feld bei jedem Schritt im Lehm fest, so kommt man heute vergleichsweise gut voran.

Inzwischen habe ich längst meinen Frieden mit dem späten Start gemacht, bedeutet es doch ein beständiges Überholen, ohne sich seinerseits irgendwelcher Verfolger erwehren zu müssen. Trotzdem bin ich in den Wettkampfmodus geraten und spare mir die Stopps an den drei Verpflegungsstellen. Da man ohnehin seinen eigenen Becher hätte mitführen müssen, habe ich gleich den Rucksack mit einem Liter Wasser mitgenommen. Hatte mir das Wasser bei der Premiere noch gereicht, muss ich diesmal erstaunlicherweise auf das mitgenommene Not-Gel zurückgreifen. Ist mein Fettstoffwechsel schlecht trainiert?

Solchen negativen Gedanken kann ich nicht länger nachhängen. Denn plötzlich ragt doch noch die Kiesgrubenklippe vor mir auf. Mit dieser neuen Streckenführung verteilen sich die Hindernisse etwas gleichmäßiger über die Gesamtdistanz. Ich hatte fest geplant, ein Foto von der Steilstufe aufzunehmen. Aber der Wettkampfmodus lässt es auch diesmal nicht zu.
 
Start-/Zielbereich mit Unterstand
Letzten Endes komme ich als 26. von 78 Finishern ins Ziel. Die Nettozeit von 2:49:02 würde allerdings dem elften Platz entsprechen. Diese Platzierung ist identisch mit der der letzten Teilnahme, obwohl ich heute fast sieben Minuten schneller bin.

Unter der Dusche gibt es dann noch eine holländische Spezialität zu bestaunen. Einige Teilnehmer reinigen dort nicht nur ihre schlammigen Körper, sondern auch ihre noch viel schlammigeren Schuhe. Erheblicher Bodensatz ist die Folge.

Der Ausschank kostenloser Erbsensuppe kompensiert das anfangs entgangene Rosinenbrötchen und lässt alle initialen Schwierigkeiten endgültig vergessen. Die nächstjährige Teilnahme ist schon so gut wie gebucht, zumal dann wahrscheinlich sogar eine Marathondistanz angeboten wird.