Aushang in Bertlich |
„Warum läuft man
denn einen Marathon in Bertlich? Hier ist doch nichts!“ Als ich meinem
Gegenüber in der Pausenhalle der Bertlicher Straßenläufe erkläre, dass es sich
nur um einen langen Trainingslauf handelt, ruft sie aus: „Ach, dann sind Sie
wohl ein Ultra?!“
Statt den
Valentinstag romantisch mit meiner Pulsmesserin zu verbringen, lasse ich mich heute
von einer anderen Frau ausführen. Gladys, die schnellste Frau Ratingens, hat
mich zu einem gemeinsamen Marathon eingeladen, den wir als flotte, lange
Trainingseinheit gestalten wollen. Sie hat dafür einen genauen Plan ausgeklügelt.
Insgesamt soll ein 5er Schnitt gelaufen werden. Wir wollen aber langsamer
beginnen, um die Verspätung dann auf der letzten der drei Runden mit
einer furiosen Endbeschleunigung zu kompensieren.
Ein Kontrolleur
des DLV durchstreift das Starterfeld und achtet darauf, dass jeder seine
Startnummer sichtbar trägt. Ein Läufer muss deshalb seine Regenjacke öffnen. Bei
einem Grad über Null und Nieselregen ist das eher unangenehm. Trotz des Wetters
haben sich knapp 100 Unerschrockene an die Startlinie gestellt. Als die
Stampede losbricht, kommt es zu einem derartigen Gedränge, dass ich Mühe habe,
auf den Beinen zu bleiben. Doch schon nach ein paar Hundert Metern hat sich das
Feld sortiert. Man scheint uns als 3:30-Hasen auserkoren zu haben. Ein Blick
zurück offenbart, dass wir einen kleinen Trupp hinter uns versammelt haben. Ein
Herr läuft direkt mit uns und berichtet, dass er einst den Geburtstag seines
zwölfjährigen Sohnes vergaß, weil er an dem Tag einen Marathon lief. Da kommt
mir mein Valentinsfremdgehen gleich nicht mehr ganz so unsensibel vor, zumal
meine Frau heute ebenfalls in Sachen Wettkampf unterwegs ist.
Bald ist uns nur
noch ein Begleiter geblieben, der treu in unserem Windschatten mitläuft.
Eigentlich sei ihm das Tempo zu hoch, meint er. „Aber eure Gespräche sind so interessant!“ Tatsächlich
unterhalten wir uns ununterbrochen und bestens gelaunt. Besonders amüsiert mich eine Anekdote von Gladys' letztem Marathon.
Sie wähnt sich schon sicher auf dem Sieger-Podest, da erblickt sie kurz vorm Ziel plötzlich noch zwei Läuferinnen vor sich. Mit letzter Kraft überholt sie die beiden im Endspurt. Die laufen im Ziel jedoch völlig unbeeindruckt weiter. Sie haben noch eine Runde vor sich!
Ich kümmere mich nicht
um irgendwelche Kilometerschilder und überlasse die Tempovorgabe meiner
Begleiterin. Wie früher beim Einkaufen mit meiner Mutter bin ich heute „nur mit“.
Ich teste stattdessen ein neues Anzeige-Feld auf meiner Fenix-3, das ich am
Vorabend heruntergeladen hatte. Es prognostiziert unsere Zielzeit basierend auf
einem nicht näher spezifizierten Algorithmus, der wohl nicht nur die bisherige
Durchschnittsgeschwindigkeit, sondern auch die aktuelle Pace irgendwie mit
einbezieht. Die Anzeige steht vom Start weg deutlich unter 3:30. Der Plan, zunächst
etwas langsamer zu beginnen, wird von der Startnummer auf der Brust zunichte
gemacht. Umso schneller werden wir später laufen müssen, wenn wir tatsächlich
eine Endbeschleunigung als Trainingselement einbauen wollen.
Rundenzeiten frisch aus der EDV |
Erwartungsgemäß
versiegt unser Redefluss in den Dreißigern dann doch ein wenig, als Gladys
Ernst macht und das Tempo verschärft. Inzwischen hat sich der Regen verstärkt
und mit ein paar Schneeflocken vermischt. Mein Füße sind mittlerweile genauso
nass wie die kalten Hände in den durchweichten Handschuhen. Mit Mütze, kurzem
Hemd über dem Langarm-Shirt und langen Hosen waren wir bisher ganz gut
ausgerüstet. Doch jetzt wollen wir endlich ins Trockene und überholen eine
bekannte Rückansicht nach der anderen. Dabei stellt sich heraus, dass Gladys
genauso tickt wie ich. Immer wieder benennt sie ein markantes Hemd im Feld vor
uns als nächstes Zwischenziel.
„Bitte bleibe bei
mir und laufe mir nicht weg!“, höre ich von der Frau an meiner Seite.
Treueschwüre sind ja am Valentinstag nichts Ungewöhnliches. Und so gelobe ich
bei Kilometer 39, dass wir bis zum Ende zusammenbleiben werden. Das kann ich
leichten Herzens tun, denn in Wirklichkeit habe ich Mühe, mit meiner
Begleiterin Schritt zu halten, als sie sich anschickt, auf den letzten drei
Kilometern abermals zu beschleunigen.
Der Weg vor uns
wird links und rechts von großen Pfützen gesäumt. Das schmale, dazwischen verbliebene
Band ist von zwei nebeneinander gehenden Mitstreitern belegt. Wir sind ohnehin
schon nass. Also pflügen wir in vollem Galopp durch die Pfützen. Dabei geraten
wohl auch einige Spritzer aufs Beinkleid der überholten Dame. Sie schimpft uns
lautstark hinterher.
Kurze Zeit später
wird uns schon wieder etwas zugerufen! Nur ist der Ton diesmal wesentlich
freundlicher. Der Moderator nennt unsere Namen und annonciert Gladys als zweite
Frau. Dann höre ich da noch etwas von einem „messerscharfen Läufer“. Huch,
kennt mich hier jemand? Ja, Oliver Witzke steht an der Strecke und macht Fotos.
Im Stadion, ein
paar Meter vor der Ziellinie, schaue ich nochmal nach der Zielzeitvorhersage an
meinem Handgelenk. Die Prognose lautet 3:22, obwohl wir ein paar Sekunden
später in 3:24:21 den Lauf beenden. Dieses Orakel kann ich wohl getrost wieder
von der Uhr löschen.
Pokal auf Urkunde |
Und noch ein Ausrüstungsgegenstand
hat heute seine Untauglichkeit bewiesen. Da ich meistens in Trailschuhen
unterwegs bin, muss ich für die „Tortour de Ruhr“ noch ein paar Straßenschuhe
einlaufen. Mit dem New Balance MT 10 war ich im Gelände hochzufrieden, so dass
ich die Straßenvariante MR 10 auserwählte. In Kevelaer hatten sich die
Schlappen ganz unauffällig verhalten. Doch heute, im regennass aufgequollenen
Schuhwerk, stieß mein rechter Mittelzeh immer wieder gegen einen Widerstand,
bis sich der Nagel blau verfärbte. Eine nachträgliche Inspektion ergibt, dass im
Innenfutter in etwa 5 mm Abstand von der Schuhspitze eine Naht verläuft. Das
muss wohl die Wurzel des Übels sein.
Über derlei Ungemach
tröstet hinweg, dass wir heute beide unsere Altersklasse gewonnen haben und bei
der Siegerehrung einen Pokal in Empfang nehmen dürfen. Das nennt man wohl
Ironie des Schicksals. War ich doch im September 2014 grandios gescheitert, als ich extra hierher reiste, um eben jenen Pokal auf der Marathondistanz zu erheischen. Nach klassischem Einbruch musste ich mich damals furchtbar quälen,
um wenigstens noch sub 3:30 zu finishen. Und heute, bei einem recht locker und
freudvoll absolvierten Trainingslauf, bin ich am Ende nicht nur eher im Ziel,
sondern auch noch glücklicher Pokalist!