Mittwoch, 11. Februar 2015

Trailrunning Tokio

Gerade denkt man über ein Gesetz nach, das die Japaner zwingen soll, wenigstens fünf ihrer Urlaubstage auch tatsächlich anzutreten, statt sie der Firma zu schenken. In Japan erfreut man sich anstelle des Urlaubs nur der "Golden Week" und der vielen Feiertage. Am 11.2.2015 ist so einer, und ich feiere mit. Da ich ohnehin schon so weit westlich des Zentrums wohne, fahre ich noch eine Stunde weiter gen Sonnenuntergang. Denn dort fangen die Berge an!

In den Bergen im Westen der Präfektur Tokio

Zwei Herren rufen


Ich will heute zwei Herren besteigen. Klingt eklig, aber die Japaner nennen ihre Berge eben so. Fuji-san, also Herr Fuji, ist wohl der bekannteste Vertreter. Leider ist im Winter eine Besteigung des Mt. Fuji lebensgefährlich, wenn nicht unmöglich. Daher müssen Herr Mitake (929 m) und Herr Otake (1267 m) dran glauben.

Blick vom Mitake-san

Vierzig Wagen westwärts


Ich verlasse am Mitake-Bahnhof die nur vier Wagen lange Bahn und laufe mittels GPS in Richtung Gipfel. Die erstaunlich wenigen anderen Touristen (wo sind die Millionen an so einem Feiertag?) nehmen erst den Bus und dann die Seilbahn. Während ich die steile Asphaltstraße zur Bodenstation der Seilbahn hochschnaufe, applaudieren mir die Arbeiter, die eine Baustelle "absichern". Was anderswo Ampeln und Schilder tun, wird hier als bezahlte Arbeit verrichtet, so dass ein soziales Netz ensteht.

Bergblick nahe Oku-Tama

Am Limit?


Eine sehr schmale Bergstraße windet sich so steil empor, dass ich mehrfach ins Gehen verfalle. Ein Vorgeschmack auf den weiteren Verlauf des Tages! Mir wird schnell warm. Ich laufe einfach im Langarmhemd weiter. Es dürften so um die Null Grad sein. Da aber bei strahlend blauem Himmel Windstille herrscht, fühlt es sich, auch angesichts der Steigung, sehr angenehm an. Sogar die Handschuhe brauche ich nicht. Dabei ist mein Laufrucksack voller Klamotten. Für Gipfelregionen, Notfälle und vor allem für die Warterei nach dem Lauf am Bahnhof habe ich ein Shirt, einen Pullover und eine dickere Jacke nebst trockenen Socken dabei. Zusammen mit drei Riegeln, einer Tüte Studentenfutter und 1,5 Liter warmen Wassers ergibt das ein dickes Knäuel auf dem Rücken. Doch der 12-Liter S-Lab ist damit noch nicht ganz am Limit.

Mitake-Schrein
Ich auch nicht. Aber oben auf dem Mitake-san wird es so frisch, dass ich mir das zweite Shirt wieder überziehe. Auch die Handschuhe werden wieder gebraucht. Denn nach dem einstündigen Austieg komme ich kaum noch zum Laufen, da es so viel zu fotografieren gibt. Schon an der Bergstation stehen ein paar Schreine herum, aber auf dem eigentlichen Gipfel erhebt sich der Mitake-Schrein. Bis hierhin ist alles recht urban mit Asphalt und Treppen ausgestattet. Wobei letzte extrem vereist sind. Haben deshalb 80 Prozent der einheimischen Wanderer Grödeln unter den Wanderschuhen? Insgeheim mache ich mich darüber lustig. "Ist doch nur Mittelgebirge!" Außerdem bimmeln die Japaner wie verrückt. Jeder trägt ein kleines Glöckchen mit sich herum. Wozu nur?

Seilversicherte Passage

Bären und andere Gefahren


Dann sehe ich es! Das Schild, das zum Mt. Otake weist und gleichzeitig vor Bären warnt. Die Mönche retten mich. Sie bieten nämlich neben allerlei Devotionalien auch die Glöckchen feil. Vielleicht haben sie  geschäftstüchtigerweise die Warnschilder selbst aufgehängt? Nun bimmele ich jedenfalls talwärts auf vereister Straße. An ihrem Ende beginnt echte Natur. Als letzte Bastion hat jemand einen kleinen Kiosk an einem Aussichtspunkt errichtet. Den Blick möchte ich natürlich genießen und biege von der gefährlich glatten Straße in scheinbar ungefährliches Matschgebiet ab. Am Ausblick lagern zwei Wanderer und kochen sich eine Mahlzeit auf dem Gasbrenner. Wie ich die beiden so bestaune, bleibe ich mit dem rechten Fuß hängen. Vielleicht weil ich das Handy in der Hand halte, gelingt es mir nicht, mich mit den Händen abzufangen. Ich erlebe, was "der Länge nach Hinschlagen" bedeutet. Mit dem Kopf voran lande ich im Matsch zu Füßen der beiden Kocher. Das entlockt diesen nur ein Gekicher. "Vielen Dank, meine mandeläugigen Weggefährten!", würde die druckfähige Version des Fluches lauten, mit dem ich die Beiden stumm bedenke. Mit christlicher Nächstenliebe darf man in Asien offenbar nicht rechnen. Das hatte ich schonmal im indischen Verkehr erlebt, als alle Autos den gestürzten Motorradfahrer einfach umkurvten.

Bären am Mt. Otake
Ich spucke Schlamm und rappele mich völlig verdreckt auf. Handy und Uhr sind verschlammt, meine Klamotten sowieso. Hand, Knie und Schulter zerschrammt. Doch ich habe Glück im Unglück. Ein paar Schritte weiter gibt es ein WC. Leider sind die Regenfässer zugefroren. Doch drinnen fließt Leitungswasser. Und dort hängt ein Spiegel. Der zeigt, dass ich nicht nur Schlamm im Gesicht habe, sondern jede Menge Blut! Kinn und Oberlippe sind nur angekratzt, aber der Nasenrücken hat wohl bei der Landung die meiste Arbeit geleistet. Von dort leckt es ganz ordentlich. Glücklicherweise gehören zu meiner Ausrüstung auch Toilettenpapier und Pflaster. Nachdem die Blutung gestillt ist, breche ich, nun etwas verwegener aussehend, zum Otake-san auf.

Bambus als Unterholz

Nur noch Single-Trail


Jetzt beginnt der Trail-Teil der Tour. Mal geht es über matschige Waldwege, mal über verharrschten Schnee, mal über Felsen oder Wurzelwege. Auch etliche seilversicherte Passagen sind dabei. Und der ganze Weg ist ab jetzt bis zum Ziel in Oku-Tama nur noch eine einziger Single-Trail!

Blicke vom Otake-Gipfel zum Fuji
Der Gipfel des Mt. Otake kommt überraschend. Plötzlich finde ich mich auf einem baumlosen Plateau wieder, das herrlich von der Sonne beschienen wird. Eine Handvoll Wanderer rastet hier und genießt den Blick in die Bergwelt, über der der Mt. Fuji throhnt.

Gipfeljause auf Japanisch: Reisteller und Stäbchen

Schnee, der unter Zedern liegt


Einen Riegel später mache ich mich an den Abstieg. Dabei komme ich langsamer voran, als beim Aufstieg. Denn für harrsch-überzogenen Fels am steilen Abgrund sind die Trailroc doch nicht griffig genug, um leichthin durch den Zedernwald zu Tale zu springen. Jetzt wünsche ich mir diese Grödeln! Vom Stürzen habe ich für heute nämlich genug. Angesichts des stellenweise alpinen Charakters der 17-km-Tour komme ich inklusive aller Zwangs-und Fotopausen nur mit 14 min/km voran, brauche also 4,5 Stunden. Und ich genieße jede einzelne Sekunde! Was auch immer heute gefeiert wird, dieser Feiertag wird für mich zum echten Kurzurlaub.



Kette und vereiste Leiter


Meine Sorge vorm Frieren am Bahnhof Oku-Tama ist unberechtigt. Just als ich eintreffe, kann ich noch in einen abfahrenden Zug nach Tokio springen. Ich stinkende, verdreckte europäische Langnase erwecke mit meinem spitznamengebenden, blutigen Körperteil sofort das Mitleid der jungen Damen neben mir. Statt sich angewidert abzuwenden, reichen sie mir Pflaster und Zellstoff. Ich revanchiere mich mit Studentenfutter. So kitten wir die in den Bergen zerbrochene deutsch-japanische Freundschaft.

8 Kommentare:

  1. Danke für die schönen Bilder und Eindrücke aus Fernost! Alle Achtung, dort herumzutrailen, ich schätze die Herrenbesteigung wird einen Wahnsinnstrainingseffekt haben für andere Torturen ;-)
    Und gute Besserung für die Blessuren, sollten Narben bleiben, sind sie ja eigentlich Ehrenabzeichen, so wie die Schmisse der Studenten...
    Liebe Grüße
    Elke

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    1. In einem Buch las ich einst: "Narben sind der Ausweis der Helden."
      Ob das auch für Narben gilt, die der Unfähigkeit zum Geradeauslaufen entspringen?

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  2. Respekt für soviel Abenteuerlust!

    Wenn ich immer wieder in Slowenien weile schaue ich mir dort auch immer die dicht bewachsen Wälder und Hügel an. Aber jedes Mal wenn ich zum Laufen komme ist es dunkel. Und letztes Mal habe ich auch von Bären erfahren die es in der Region geben soll.
    Von daher halte ich mich in der Ferne bisher doch ganz gerne an die Wege und Ausschilderungen.

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    1. Ich borge dir gerne mal mein Bären-Glöckchen ;-)

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    2. Und ich bezweifel, dass des wirklich hilft ;)

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  3. Du bist einfach der Hammer! :-)))
    Ich hoffe, deiner Nase geht es besser. Du hast bestimmt ganz schön schlimm ausgesehen, zum Glück kontest du die Herzen der Damen erweichen und somit die deutsch-japanische Freundschaft retten :-)
    Wunderschöne Tour.
    Da wäre ich gerne dabei gewesen :-)
    Liebe Grüße
    Helge

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    1. Ja, wie ein Hammer bin ich auf den Boden geschlagen. Ob man mich wieder einreisen lässt, obwohl das Passbild nicht mehr "passt"?

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    2. Oh ich drücke dir die Daumen das das klappt mit der Einreise.
      Ansonsten versuchst du es nochmal in 4-6 Wochen wenn alles verheilt ist :-)))

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