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Startklappe |
Die Fahrt nach Einsiedel, einem Vorort von Chemnitz, ist für die Pulsmesserei eine Zeitreise. In Chemnitz haben wir einst studiert und die hügelige Landschaft des Umlands ausgiebig genossen. Im Starterfeld stelle ich fest, dass der hier gesprochene, lokale Dialekt heimatliche Gefühle in mir auslöst. Eine Kostprobe der hiesigen Version der sächsischen Mundart liefert die spätere Siegerin, als sie streckenbezogene Informationen preisgibt: "Dor Bauer hadde Guhscheiße ni weggemocht. Da müss mor glei durchrammeln!" (Der Landwirt habe den Kuhdung nicht beseitigt, so dass wir da in Bälde hindurchzurennen haben werden.)
Bevor es jedoch so weit ist, warten wir auf das Startsignal. Das gibt der Verantwortliche des ausrichtenden Klubs "Skiverein Einsiedel" passenderweise, indem er als Startklappe die Laufsohlen von ein paar Ski zusammenknallen lässt. Damit werden wir auf den 6-km-Kurs entlassen, den es zweimal zu passieren gilt, um auf die ausgeschriebenen 12 km mit 500 Höhenmeter zu kommen.
Die ganze Nacht hat es geregnet. Und entgegen aller Prognosen regnet es noch immer. Entsprechend aufgeweicht empfängt der Boden unsere Laufschuhe. Erstmals bin ich froh darüber, dass bei meinem spontanen Trailschuh-Notkauf neulich nur ein Goretex-Exemplar vorrätig war. Wir queren den besagten Bauernhof, der vom Niederschlag anscheinend ganz gut gereinigt wurde. Dahinter geht es steil über die Weide in den Wald hinein und immer weiter bergauf. Ich werde reihenweise überholt. Nur die drittplatzierte Dame kann ich meinerseits überholen.
Wo es hinauf geht, muss es auf einer Runde auch wieder hinunter führen. Und dann schlägt jeweils meine Stunde. Mein Vertrauen in den Grip des Brooks Cascadia wird nicht enttäuscht, so dass ich mit schnellen Schritten die Piste runter pesen kann und etliche Plätze gutmache. Nur um sie am nächsten Berg wieder einzubüßen.
So wogt das Geschehen hin und her, als überraschenderweise schon die erste Runde absolviert ist. Dabei zeigt die Uhr erst 5,5 km. Und gute 30 min. Die Zeit passt zu meiner vorher abgegebenen Ziel-Prognose von etwa einer Stunde, die einer 5er Pace entspricht. Optimismus breitet sich in mir aus. Verstärkt wird das Gefühl dadurch, dass der ob seines grauen Bartes als AK-Konkurrent wahrgenommene Sportler bei einem Blick zu Tale inzwischen weit unter mir zu sehen ist. So setze ich das Hin-und-her-Gewoge auf Runde 2 mit dem verbliebenen "Jungvolk" fort.
Ich bin jetzt genau dort, wo ich sein will: im Gewoge, unter Gleichgesinnten, im Matsch, in der hügeligen Natur der sächsischen Heimat - einfach im Flow. Gut, auf den Regen und das Gefühl sich anbahnenden Seitenstechens könnte ich verzichten.
Der Vorteil zweier Runden besteht darin, ganz gut abschätzen zu können, wann mit dem Endspurt zu beginnen ist. Ich warte noch das extrem rutschige Gefälle ab, an dem ein extra abgestellter Streckenposten Warnhinweise ruft. Trotzdem kommt ein Athlet vor mir zu Fall. Auch mir fehlt inzwischen die Kraft in den Oberschenkeln, um mit hoher Geschwindigkeit sicher zu Tale zu fegen. Aber unten gebe ich mir die Sporen. Jetzt bloß nicht mehr überholen lassen!
Und so gelingt mir ein negativer Split mit deutlich schneller gelaufener zweiter Runde, als ich nach 58:46 min ins Ziel laufe. Damit darf ich als AK-Dritter aufs Podest. Auch hier hat sich der Veranstalter etwas Besonderes ausgedacht. Die aus Holzpaletten errichtete Sieger-Tribüne wurde mit Herbstlaub geschmückt. Sogar die Sieger-Pokale stellen ein Laubblatt dar. Ich bekomme nur eine Urkunde, aber auch diese ist mit dem Blatt bedruckt. Während die Gesamtsieger einen 150-Euro-Gutschein erhalten, stellt sich bei den Preisen der AK-Gewinner die Frage, ob es sich nicht eher um eine Strafe handelt. Sie gewinnen einen Aufenthalt am "
Kältesten Ort in Chemnitz" - einer Kältekammer mit Minus 85 Grad Celcius.
Ganz so exklusiv ist mein Podestplatz dann doch nicht, wie es sich anfühlt, wenn man da oben steht. Von 67 gemeldeten Sportlern, laufen 59 ins Ziel. Die Altersklassen werden hier nicht in 5-Jahresschritten, sondern aller 10 Jahre zusammengefasst. Trotzdem bleiben damit - von W20 bis M60 - zehn Altersklassen, deren drei Sieger jeweils aufs Podest dürfen. Jeder Zweite wird hier im Schnitt geehrt!
Das ist nicht der alleinige Grund dafür, dass so viele bis zum Schluss der Veranstaltung warten. Das üppige Buffett, das mit veganem Kuchen, Kürbissuppe und Gegrilltem Feta im Tomatenbett auch Ernährungswünsche abseits des Mainstreams bedient, dürfte auch dazu beitragen (Steak und Wurst vom Grill sind ebenfalls wohlfeil). Zusätzlich wird ganz am Ende ein Wochenende in einem Wohnmobil unter allen anwesenden, erwachsenen Startern verlost. (Der Besitz eines Führerscheins ist seltsamerweise keine Bedingung.) Bei der Lotterie kommt es zu einem besonderen Vorfall. Der erste Griff des Moderators, der während seiner eigenen Teilnahme am 12-km-Rennen von einem Ersatzmann vertreten worden war, zieht die Startnummer eines nicht Anwesenden. Er greift noch einmal in die Lostrommel - und zieht seine eigene Startnummer!