|
Aufnäher statt Medaille |
Bis zuletzt ist unsicher, ob meine anderen Verpflichtungen einen Start bei der Harzquerung zulassen. Deshalb habe ich keine Übernachtung gebucht. Stattdessen stehe ich am 27.4.2013 um 3 Uhr auf und fahre nach Wernigerode. Ich denke, mit diesem Ansatz habe ich in etwa genauso viel Schlaf abbekommen wie bei einer Übernachtung im Gemeinschaftsquartier. Während der Fahrt regnet es ununterbrochen. Das Thermometer zeigt um die 4 Grad. Glücklicherweise habe ich nach dem Abrufen des Wetterberichts noch eine Regenjacke in die Wettkampftasche gepackt.
"Warst du heute schon mal draußen?"
Kurz vor Sieben erreiche ich die Turnhalle "Unter den Zindeln" und bekomme direkt am Eingang meine Startnummer. Es ist also noch ausreichend Zeit bis zum Start und somit Gelegenheit das Objekt zu inspizieren. Auf der nostalgisch anmutenden
Homepage des Veranstalters war angedeutet worden, dass die Turnhalle demnächst abgerissen werden solle. Optik und Geruch passen zu dieser Aussage. Trotzdem erfüllt das Gebäude seinen Zweck, schützt es doch die Wartenden vor dem Regen und spendet Wärme. Bildete früher der Herd das soziale Zentrum einer Wohnung, so sind es hier die Heizkörper, um die man sich schart. Ein Starter ist mit dem Fahrrad angereist und entsprechend durchgeweicht. Er versucht seine Socken an der Heizung wieder trocken zu bekommen, was nicht bei allen auf Gegenliebe stößt. Ein anderer Läufer schmiegt sich in dicker Jacke an die Heizung und meint angesichts meiner kurzen Laufhose: "Warst du heute schon mal draußen?" Es regnet immer noch. Aber ich habe ja meine Regenjacke dabei. Nicht alle sind so gut ausgerüstet. Jemand borgt sich eine kleine Plastiktüte, versieht sie mit einem Loch für den Kopf und drapiert sich das Ganze elegant um den Hals, um wenigstens die Schultern zu schützen. Diese Improvisation scheint sich unterwegs zu bewähren. Jedenfalls werde ich ihn Stunden später genau so gekleidet ins Ziel laufen sehen.
Ich reiße mir die Jacke vom Leib
Als ich dem Pulk zum Start am Waldrand folge, regnete es gar nicht mehr so stark und ich bekomme Zweifel, ob die Jacke nicht doch zu warm ist. Nach dem Startschuss geht es sofort steil bergan, und das Feld kommt ins Stocken. Vielfach kann man daher nur Gehen. Doch selbst dabei rutschen die Füße im Matsch immer wieder nach hinten weg. Überholen ist nur im Unterholz neben dem Weg möglich. Meine Pace liegt bei über 8 min/km. Das hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt, denn ich möchte weniger als 5 Stunden für die 51 km lange Strecke benötigen. Ich kämpfe mich weiter bergan, schwitze stark und reiße mir die Jacke vom Leib. "Na super, jetzt kannst du den Lappen noch 50 km mit dir rumschleppen!", fährt es mir durch den Kopf. Doch kaum kommen wir oben an der nebelverhangenen Zillierbach-Talsperre an, weht ein kalter Wind und ich bin froh, die Jacke wieder überstreifen zu können. Drei Grad wird das Thermometer im Ziel anzeigen, also dürfte es auf den Gipfeln noch kälter sein. Jedenfalls werde ich die Jacke bis Nordhausen nicht wieder ausziehen.
Alte Bekannte aus der DDR
An der ersten Verpflegungsstation treffe ich alte Bekannte, die ich längst vergessen hatte. Die Getränke werden nicht in den üblichen Wegwerfbechern gereicht, sondern in den guten alten, braunen DDR-Plastik-Henkelbechern, aus denen ich schon im Kindergarten getrunken habe. Später bei Lehre und Armee wurde darin der berüchtigte Impo-Tee ausgeschenkt. Sein Name basiert auf der Legende, dass dem Tee ein Zusatz beigemischt war, der den Geschlechtstrieb unterdrücken sollte. Heute ist etwas Zucker im Tee, der Energie für die nächsten Kilometer gibt. Und damit gilt auch heute: Vortrieb statt Geschlechtstrieb!
Schwierige Wegverhältnisse und Stürze
Der schlammige Untergrund verlangt viel Kraft und Aufmerksamkeit. Ich bin mit normalen Straßenlaufschuhen unterwegs und rutsche stark. Dennoch bin ich manchmal gegenüber den Trailschuhträgern im Vorteil. Deren Profilschuhe haben auf nassem Holz keinen Grip, und ein Läufer stürzt direkt vor mir auf einer Brücke. Nachdem er sich aufgerappelt hat, wirft er einen Blick auf meine weißen Handschuhe: "Wenn sie im Ziel noch weiß sind, hast du alles richtig gemacht!" Kaum sind diese Worte verhallt, bleibe ich an einer Wurzel hängen und kann mich gerade noch mit den Händen abfangen. Ich zeige meine nun braunen Hände vor und bekomme zu hören: "Solange sie nicht rot sind, ist es auch in Ordnung!"
Plötzlich Gegenverkehr
Wie in der Ausschreibung versprochen, führen die Wege meist auf schmalen Pfaden durchs Unterholz. Und so wundert sich auch niemand, als es - kurz nachdem ein Bach zu überspringen war - auf einem verwachsenen alten Rückeweg weitergeht. Selbst als unserem Trupp plötzlich Läufer von vorn begegnen, ahne ich nichts. Schließlich werden bei diesem Laufereignis auch andere Strecken angeboten, deren Verlauf ich nicht kenne. Während die ersten der Entgegenkommenden kommentarlos an uns vorübereilen, ist am Ende des kleinen Feldes jemand so fair, uns darauf hinzuweisen, dass wir uns alle verlaufen haben und umkehren müssen. Ich habe meine Lektion gelernt und werde künftig nicht mehr blind der Masse folgen, sondern eigenverantwortlich nach Wegmarkierungen Ausschau halten.
Schattenmann statt Hammermann
Der Verlauf des Weges ist die pure Lust! Trotz der suboptimalen Witterung kann ich die Schönheit der Landschaft ringsum genießen. Wie herrlich muss es erst bei Sonnenschein sein? Aber Hitze wäre meinem Lauf nicht zuträglich und so bin ich es zufrieden. Plötzlich schießt von hinten
der Schattenmann vom Kyffhäuser an mir vorbei. Seine damalige Zurückhaltung zahlt sich heute offenbar aus. Hoffentlich habe ich nicht zu viele Körner verbraten.
Ich will doch noch auf den Rennsteig!
Vom Genusslaufen noch weit entfernt
Am langen Anstieg zum Poppenberg muss ich noch ein paar der verbliebenen Körner investieren. Hin- und wieder muss ich hier gehen, bin oben aber erstaunt, wie gut der Aufstieg gelang. Das hatte ich mir schlimmer vorgestellt. Von einer Besteigung des Aussichtsturmes sehe ich aber ab. In einem Laufbericht hatte ich vorab gelesen, dass tatsächlich einige noch hier hinauf gehen und den Fernblick genießen. Von dieser entspannten Herangehensweise des wahren Genussläufers bin ich noch zu weit entfernt. Vielleicht gelingt es mir eines fernen Tages, diese Gelassenheit zu erreichen. Heute trage ich noch eine Uhr beim Laufen und eile nach kurzer Stärkung an der Verpflegungsstation weiter.
9 km Ultra-Feeling
Nach einer längeren Bergabpassage, an der ich einige Mitstreiter überholen kann, erreiche ich den Verpflegungspunkt bei km 43. Die Marathondistanz hat Körper und Geist zu einer homogenen Masse kondensiert. Schluchze ich vor Schmerz oder vor Glück? Das Blut pulst irgendwo durch die Beine, aber kaum noch durch den Kopf. Ich benötige mehrere Hundert Meter, um erfolgreich auszurechnen, dass das Fünf-Stunden-Ziel realistisch erreichbar ist. Ein Schwall Endorphine kommt über mich. Obwohl es kaum noch größere Anstiege zu bewältigen gibt, werde ich von hinten überrollt. Offenbar haben die anderen bessere körperliche oder mentale Reserven. Vielleicht fehlt mir einfach noch die Erfahrung auf der ultra-langen Strecke. An der letzten Getränkestation weist ein handgemaltes Pappschild noch 4 km bis zum Ziel aus. Ich zweifle.
Stand nicht im Internet, dass es ab hier noch 5 km seien? Der Weg zieht sich über aufgeweichte Wiesen. Ich rutsche bei jedem Schritt bergan wieder ein Stück zurück. Ein Überholender versucht mich zum Mitkommen zu motivieren. Er schafft es nicht. Jeder Schritt schmerzt. Ich sehe Häuser in den Wiesen, ahne dass Nordhausen naht. Wage wieder nicht, es zu glauben. Immer wieder der Gedanke: "Wie weit noch? Wie weit noch?". Schließlich, ich passiere gerade ein paar Kleingärten, kommt mir ein Fußgänger entgegen und meint: "Nur noch 500 m!" Ich kann es nicht fassen. "Nur noch 500 m?", rufe ich erstaunt, erleichtert und befreit zugleich. Statt auf Meter hatte ich mich noch auf Kilometer eingestellt. Ich habe noch eine Menge Zeit, bevor die selbstgesetzte 5-Stunden-Frist verstreichen wird. Lächelnd greife ich zum Telefon, um mein Ein-Mann-Empfangskomitee auf meinen verfrühten Einlauf aufmerksam zu machen. "Mach mal die Kamera scharf!", rufe ich. Doch das Komitee steht nicht am Ziel, sondern im Stau. Egal, das kann mein Glück jetzt nicht mehr trüben!
Da brauchst du jemanden, der dich sehr, sehr lieb hat.
"Das hast du dir jetzt verdient.", höre ich im Ziel. Aus dem Munde eines Kindes klingt das seltsam. Ich neige mein Haupt, um mir die Medaille umhängen zu lassen. Doch zu meiner Enttäuschung bleibt mein Hals ungeschmückt. Stattdessen bekomme ich einen Textmarker und einen Aufnäher in die Hand gedrückt. Beide ziert das Logo der Harzquerung.
|
Textmarker als Zielprämie |
Außerdem gibt es Iso, Wasser, saure Gurken und Schmalzstulle für die Finisher. Das Gepäck liegt regensicher unter einem Tribünendach direkt neben dem Ziel. Und auch zur Dusche ist es nicht weit. In der Umkleide hat jemand Probleme, die Beine anzuwinkeln: "Jetzt fehlt mir jemand, der mir die Socken auszieht." Sollte das ein Wink mit dem Zaunpfahl sein, so wird er nach einem Blick auf seine schlammigen, stinkenden Füße ignoriert: "Da brauchst du jemanden, der dich sehr, sehr lieb hat."
Mein Ein-Mann-Empfangskomitee
Den vom Veranstalter organisierten Bustransfer zurück nach Wernigerode brauche ich nicht in Anspruch zu nehmen. Denn mein Ein-Mann-Empfangskomitee trifft doch noch ein. Eigentlich ist es auf der Durchreise zu einem Radrennen in Göttingen. Doch es macht nicht nur in Nordhausen für mich Halt, sondern nimmt auch noch den Umweg über Wernigerode in Kauf, um mich im gut geheizten Auto dorthin zu chauffieren. Unterwegs werde ich mit heißem, gesüßten Tee und diversen Kohlehydraten verwöhnt. Dankbar genieße ich diesen Service, den nur ein erfahrener Ausdauersportler bieten kann. Gemeinsam besichtigen wir das schmucke Fachwerkstädtchen Wernigerode. Ein Kurzurlaub bis zur baldigen Walpurgisnacht wäre angemessen. Doch nach einer Einkehr - immerhin nehmen wir den "Hexenschmaus" - muss ich die Rückfahrt antreten.
Ausblick
Die Sehenswürdigkeiten und Naturschönheiten des Harzes erfordern weitere Besuche in dieser Gegend. Die Harzquerung mit ihrer ausgesucht naturnahen Wegführung und der schnörkellosen Organisation lockt ohnehin zur Wiederholung - dann vielleicht bei schönem Wetter. Darüberhinaus gibt es z.B. mit Harzgebirgslauf, Brocken-Lauf, Bad Harzbuger Bergmarathon und Brocken-Challenge noch genügend Gründe zum Wiederkommen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen