Montag, 26. Oktober 2015

100 km Röntgenlauf


Was ist das Härteste beim Ultralaufen? Richtig, das zeitige Aufstehen. Um 4 Uhr startet der Röntgenlauf über 100 km am Sonntagmorgen in der Nacht der Umstellung auf Winterzeit. Dadurch könnte ich theoretisch eine Stunde länger schlafen, doch die Wirren der Zeitänderung vermasseln mir beinahe den Start.


Von 2 auf 3 Uhr wird die Uhr eine Stunde zurück gestellt. Um diese Problematik beim Weckerstellen zu umgehen, programmiere ich mein Handy schon auf 2:45 Uhr.

Mein Zeitplan zur Uhrumstellung
Zufällig wache ich um 2:40 Uhr auf und freue mich, dass ich noch fünf Minuten liegen bleiben kann. "Die sind aber lang, die fünf Minuten!", denke ich noch. Da steht die Uhr schon bei 2:49! Das supersmarte Smartphone meint offenbar das "nächste 2:45 Uhr" und will mich noch eine Stunde schlafen lassen. Technik, die begeistert!

Dank meiner inneren Uhr bin ich rechtzeitig in Remscheid und lasse mir mit der Startnummer Teilnehmer-Shirt, Notfallpfeife und -telefonnummer sowie einen Drop-Bag aushändigen. Anstatt eine Startpistole abzufeuern, zünden die Veranstalter ein kleines Feuerwerk. Das hat ja mal Stil! Stilecht ist auch ein Läufer unterwegs. Als alle anderen ihre Stirnlampen einschalten, illuminiert er seinen Rucksack mit einer Lichterkette.
Briefing vorm Start
Auf einer 58-km-Runde laufen wir vom Start zunächst 21 km in die Gegenrichtung bis zu einem Wendepunkt - dem späteren Kilometer 79. Von dort geht es dann zurück zum Start. Nach diesem ersten Marathon starten wir sozusagen noch einmal, nur in die andere Richtung, und nehmen die verbleibenden 58 km in Angriff.

Während der Nacht gibt es noch keine offiziellen Verpflegungsstellen des Veranstalters. Lediglich an der Wendestelle werden ein paar Salzstangen und Getränke vorgehalten. Der Privatinitiative von Oliver Witzke ist es zu verdanken, dass bei km 10 (bzw. 32) dennoch Versorgung bereitsteht. Trotzdem nehme ich einen Laufrucksack mit Proviant und einem halben Liter ISO mit. Als Lehre aus dem letzten 24-Stundenlauf, bei dem mir immer wieder die Kraft ausging, weil ich zu wenig gegessen hatte, will ich diesmal richtig viel futtern, solange ich feste Nahrung zu mir nehmen kann. Die Strategie wird sich bewähren.

Das Tempo pendelt sich bei einem guten 6er Schnitt ein. Ich fühle mich bestens. Meine einzige Sorge ist, ob ich beim erneuten Startdurchlauf, Rucksack, Warnweste und Stirnlampe ins Kleiderdepot bringen soll. Die Drop-Bags liegen nämlich nicht an der Strecke, sondern etwas abseits in der Anmeldehalle. Lohnt sich der Umweg? Die Temperatur von 11 Grad scheint sich seit dem Start nicht verändert zu haben. Ein Kleiderwechsel ist somit nicht zwingend nötig. Bisher bin ich mit kurzer Hose, Langarmhemd, Kappe und Handschuhen unterwegs. Im Wechselsack lagert ein Hemd mit kurzen Ärmeln nebst Armlingen. Letztlich entscheide ich mich dafür, den Ballast abzuwerfen, und mir die frischen, trockenen Sachen anzuziehen. Der Startbereich ist nun voller Läufer, die ihrem jeweiligen Rennen entgegensehen. Die wenigsten haben auf dem Schirm, dass sich jemand, der sich hier durch die Massen zu drängen versucht, schon im Wettkampf befindet. Vier Minuten kostet mich der Boxenstopp.

Am 42-km-Schild zeigt meine Uhr genau 43 km an. Zweimal hatte ich mich in der Nacht verlaufen, musste umkehren und habe somit Zusatzmeter gesammelt. Trotz der Reflektoren an allen Markierungen war ich nicht der einzige mit diesem Schicksal. Mancher wird ganz auf der Strecke bleiben. Der Lauf ist auf 250 Teilnehmer limitiert. Das Ziel erreichen am Ende 28 Frauen und 156 Männer.

Inzwischen ist es hell geworden. Dadurch kann man ermessen, wie gut der Termin des Laufes gewählt ist. Das Laub hier im Bergischen Land ist schon bunt gefärbt und ziert noch die Bäume. Die Veranstaltung ist also auch eine Augenweide. Obwohl neben ein paar wenigen Trails (auf denen jede hervorstehende Wurzel mit gelber Sprühkreide markiert ist) hauptsächlich Asphalt und breite Waldwege belaufen werden, ist doch stets Natur im Blick. Schön!

Bei mir läuft es heute. Die Pace steigt bis in die 60er Kilometer nur ganz leicht an - auf 6:08 min/km. Ensprechend hebt sich auch meine Stimmung. Ohne große Schmerzen, ohne Quälerei, ohne negative Gedanken ziehe ich dahin und mache mir diesen Luxus bewusst. Heute fahre ich die Ernte aller Trainingskilometer das Jahres ein. Mir scheint gerade mein bisher flüssigster Ultra zu gelingen. Sogar jegliche Krisen bleiben aus. Hinzu kommt, dass die Strecke äußerst gut mit Zuschauern bestückt ist - jedenfalls für einen Landschaftslauf. Und alle zeigen Anteilnahme. Das Mindeste ist Applaus. Doch ganz oft kommt es zu persönlichen Kommentaren voller Anerkennung und Respekt. Das tut unheimlich gut!

Eher unfreiwillig motiviert mich die Dame am Verpflegungspunkt bei km 79, als sie nach einem Blick auf meine Startnummer ausruft: "Ach, jetzt kommen die Hunderter!" Zwar habe ich jede Menge anderer Hundertkilometerläufer überholt, aber bin ich wirklich so weit vorne im Feld?

Der letzte Halbmarathon steht an. Die Strecke kenne ich ja schon vom frühen Morgen. Nun wird es doch etwas härter. Die Durchschnitts-Pace steigt auf 6:14 min/km. Rein rechnerisch wäre ein Finish unter 10:30 drin. Das gibt mir ein Ziel und Motivation. Trotzdem ziehen sich die Kilometer jetzt. Besonders eklig ist die ewig lange, schnurgerade und asphaltierte ehemalige Bahntrasse. Da sehne ich mich nach dem nächsten Berg, um endlich mal wieder ein paar Schritte gehen zu dürfen.

Doch ab km 90 versage ich mir jegliche Gehpausen. Endspurt ist angesagt. Ich will die 10:30 knacken. Nichtmal an den letzten beiden Verpflegungspunkten bleibe ich stehen, nehme nur ein paar Schlucke im Vorbeilaufen. Essen kann ich seit km 70 ohnehin nichts mehr und zehre von den vorher gebunkerten Vorräten. Sogar zwei 63-km-Ultras überhole ich. Gefühlte Ewigkeiten zieht sich der Weg an der Talsperre vorbei, bevor beim Schild, das die letzten drei Kilometer anzeigt, endlich rechts dieser kleine Trail beginnt. Gut, das kann ich. Sogar Bergablaufen gelingt hier noch immer schmerzfrei. Vielleicht liegt es an der mir neulich angelesenen[1], neuen Technik, mit kleinen Schritten und hoher Tritt-Frequenz, vornübergebeugt hinabzulaufen, ohne dabei mit den Beinen abzubremsen.

Vorm Ziel lauert in den Spielen meiner Kinder das böse Endmonster. Mich erwarten stattdessen die letzten fiesen Anstiege. Aber ich laufe sie alle durch! Endlich am Waldesrand, ruft mir ein Zuschauer zu, er habe mitgezählt und ich sei auf Platz 8! Meine ungläubige Reaktion macht ihn wohl etwas unsicher, denn er relativiert: "Auf jeden Fall Top Ten!"

Keuchend und unter Aufbietung allerletzter Reserven stürme ich die finale Straße hinunter. Dort wähne ich mich mitten in die Anfangsszene von "Die Nackte Kanone 33 1/3" versetzt. Der schmale Fußweg ist von drei Muttis mit Babyjoggern blockiert, die hier gerade den Wettbewerb "Fit mit Baby" austragen. Ich mogele mich irgendwie vorbei. Nachdem ich auf der Zielgeraden auch noch "die führende Mutter" überholt habe, sind die letzten Meter nur noch Jubel!

Zeit: 10:27:11 - Gesamtplatz 8 - AK-Platz 2
Lt. Fenix3: 1838 Hm - 100, 66 km

Finisher-Jacke

[1] Ken Mierke, Lauftraining für Triathleten und Marathonläufer, Sportweltverlag, 2007