Montag, 19. Dezember 2016

Blegny – Trail des Gueules Noires


Zwei junge Männer mit rußgeschwärzten Gesichtern stehen neben mir an der gedachten Startlinie. "Poser!", denke ich, bevor mir aufgeht, dass wir hier beim "Trail der schwarzen Gesichter" zu Gast sind. Die Veranstalter wollen damit der belgischen Steinkohleförderung in Blegny gedenken. Und natürlich führt der Track auch über die Halde des ehemaligen Bergwerks. Schließlich wollen die knapp 2000 Höhenmeter auf den 53 Kilometern irgendwie gesammelt sein.

Sieht man sonst vor einem Lauf reihenweise emporgereckte Uhren um GPS-Empfang ringen, bleiben die belgischen Trailliebhaber ganz entspannt bis zur letzten Minute ausnahmslos in der gut geheizten Anmeldehalle. Bei drei Grad will niemand draußen herumbibbern, auch wenn es trocken und nahezu windstill ist. Außerdem befindet sich der Start direkt vor der Tür.
Halde Blegny - der Anstiegswinkel ist gut zu sehen
"Bin ich im falschen Film? Ich wollte doch keinen Städtemarathon laufen!" Es geht hinter einem Führungsfahrzeug auf Asphalt durch den Ort! Nach wenigen Hundert Metern folgt dem Schrecken die Erleichterung. Eine Dame im Weihnachtsdress weist uns den Weg ins belgische Farmland. Das erste von ungezählten Weidegattern ist zu passieren.

Es verspricht, ein herrlicher Tag zu werden. Das weiche Morgenlicht der aufsteigenden Sonne fällt auf bachdurchmurmelte Wiesen, und blattlos baumbestandene Weiden. Immer wieder säumen protzige Landgüter den Pfad. Da bist du nur ein paar Kilometer hinter der deutschen Grenze, und schon sieht alles ganz anders aus!

Die knöcheltief zertrampelten Gehege sind kein einfacher Untergrund, aber noch geht es flach dahin. Bis die Halde in ihrer dreckigen Pracht am Horizont auftaucht! Kaum hochgequält, führt die Markierung neben einer Treppe wieder im rutschig-feuchten Abraum hinab.

Halde Blegny
Es folgt eine schier unendliche Aneinanderreihung kleiner Geheimtipp-Pfade. Und wo so ein Tipp gefehlt hat, schickt uns der Streckenverantworliche einfach weglos durchs Gehölz. Ich meine eine gewisse Vorliebe des Meisters für Hohlwege zu spüren. Es ist steil, es ist wurzelig, rutschig, steinig, schlammig, nass. Ja, ein bisschen Asphalt ist auch dabei. Und der ist gefährlich, weil morgens noch überfroren. Auch auf feuchtem Kopfsteinpflaster will der Terraclaw 220 an meinem Fuße nicht greifen.


Ansonsten funktioniert meine - nach dem Test letzte Woche - optimierte Ausrüstung. Die breiten, losen Riemen der Salomon-Gamaschen habe ich einfach rausgeschnitten und durch Draht ersetzt. Im Gegensatz zum Gummiriemen lässt der sich zwischen den Profilstollen verlegen. Dadurch sitzen die Gaiters fest und rutschen nicht hoch. Schlamm, Dreck und Steine bleiben draussen.

Inov-8 Terraclaw 220 mit gepimptem Salomon Gaiter Low
Aber Wasser kommt natürlich trotzdem rein. Und dafür gibt es so reichlich Gelegenheit, dass ich zwischenzeitlich bereue, keine wasserfesten Socken angezogen zu haben. Oft genug führt die orange Klebeband-Streckenmarkierung durch nasses Gras oder schlammige Wiese. Aber mehrfach sind auch Bäche steglos zu passieren. Einmal ist das ganz besonders fies. Ich renne den Brückenkopf hoch, nur um dort oben feststellen zu müssen, dass die zugehörige Brücke fehlt und ein Sprung in den Bach unvermeidlich ist.

Eine besonders steile Stelle klafft als Abgrund irgendwo in einem Grubengelände. Mein Vordermann weiß sich nicht anders zu helfen, als sich hinzuhocken und sich mit den Händen zu Tal zu schieben. Die Technik muss ich mir merken! Das Ganze gibt es in diesem extremen Winkel hin und wieder auch anders herum. Dort geht es dann nur auf allen Vieren hoch.


Gefühlte 20 Kilometer läuft ein etwas älterer Trailfreund direkt in meinem Kielwasser. Immer wieder macht er mit lauten Rülpsern auf sich aufmerksam. Als es wieder einmal weglos durchs Unterholz geht, lässt er kein Bäuerchen, sondern einen markerschütternden Schrei vernehmen. Ich laufe sofort zurück, da hat er sich nach seinem Sturz schon wieder aufgerappelt, hält sich aber das Bein. Dennoch folgt er mir weiter, lässt aber immer wieder Schmerzenslaute hören. Fassen wir also zusammen, der Mann ist älter, der Mann ist verletzt. Und trotzdem hängt er mich irgendwann an einem Hang ab. Er humpelt schneller, als ich gehen kann!


Obwohl ich den Lauf einigermaßen defensiv begonnen habe, ist in den hohen Dreißigern für mich der fröhliche, im Flow durchlebte Trailspaß zu Ende. Ich wünsche, es wäre nur ein Marathon und sehne die zweite Verpflegungsstelle bei Kilometer 41 herbei. Dort gibt es die belgische Version der 5-Minuten-Terrine. Heiß, salzig, herrlich! Mein Liter Apfelschorle ist seit geraumer Zeit ausgetrunken. Ich fülle die Flaschen mit Iso auf und schütte mit dem Durst eines Schiffbrüchigen soviel kaltes Getränk in mich hinein, wie es der flaue Magen hoffentlich verträgt.

Eine Banane und ein paar Gehschritte bringen etwas Erholung. Die plötzlich erstaunlich flache und einfache Wegführung tut ihr Übriges, um die schmerzenden Beine, die ganz offenbar kein adäquates Bergtraining hatten erfahren dürfen, ein wenig zu beruhigen.

Die Sonne hat ihr morgendliches Versprechen nicht gehalten. Feuchtigkeitsgesättigte Luft wartet nur darauf als Niesel zu kondensieren und lässt kaum noch einen Weitblick zu. Da wird im Dunst der Umriss einer weiteren Halde sichtbar!

Halde, unteres Segment

Ich unterdrücke ein bitteres Lachen und gebe mich keiner Illusion hin. Da wird es gleich nochmal drüber gehen. Und schon ragt sie vor mir auf. Schlammig, rutschig, hässlich. Doch ihr magerer Bewuchs ist mein Freund. Hat er mir doch ein abgewinkeltes Stöckchen hinterlassen, das mir bei meinem Aufstieg als Krücke dient, auf die ich mich mit beiden Händen stützen kann. Der Leidensgenosse vor mir hat es schon zum kargen Gipfel geschafft, dreht sich um und blickt zu mir herab. Wir grinsen nur müde. Selten ist mit einem einzelnen Gesichtsausdruck so viel Information ausgetauscht worden.

Halde, Mittelteil (im Hintergrund finaler Anstieg)
Heil auf der anderen Seite am Fuße des elenden Dreckhaufens angekommen, werde ich von Zuschauern beklatscht: "Bravo, Courage!" Unter ihnen einer der Jünglinge vom Start, das schwarze Gesicht notdürftig gewaschen. Ich mag gerade eine weitere, lange Lektion in Demut erfahren haben. Aber aufgegeben habe ich nicht!

Allerdings bin ich wohl nicht mehr ganz Herr meiner Sinne. Der Blick und die Gedanken schweifen ab. Ich habe all' diese halsbrecherischen Passagen überstanden, nur um jetzt auf ebenem, breiten Feldweg zu stolpern und zu stürzen. Instinktiv rolle ich ab. Mein Geroller kommt gerade noch rechtzeitig vor dem Stacheldraht-Weidezaun zum Stehen und ich dort zum Liegen. Niemand hat's gesehen, schnell weiter!

Den letzten der drei Verpflegungspunkte ignoriere ich und erreiche nach einem weiteren Kilometer den Zielbogen direkt vor dem Start-/Zielgebäude. Doch noch ist der Lauf nicht zu Ende. Erst als ich die Flügeltür zur Halle öffne, wo der Zeitnehmer im Warmen wartet, werde ich mit 6:10:33 registriert.

Höhenprofil


Mittwoch, 14. Dezember 2016

Siebengebirgsmarathon – 7G 2016

Man muss nicht in Frankfurt laufen, um in einer Festhalle zu finishen. Das geht auch beim Siebengebirgsmarathon.

Wartender Fotograf am Zieleinlauf im Bürgerhaus Aegidienberg
Seit 2013 habe ich dort jeweils den läuferischen Jahresausklang zelebriert. Diesmal habe ich noch etwas mehr vor. "Irgendwann will ich beim 7G unter 3:30 bleiben, doch in diesem Jahr muss ich betont langsam laufen, denn eine Woche später steht noch ein belgischer Ultratrail in meinem Laufkalender.", so schrieb ich vorab an meine Laufpartner.

Wir sind zu viert angereist, um unseren CO2-Fußabdruck zu reduzieren. Unsere Trittspuren im Boden der siebengebirgischen Waldwege wollen wir hingegen ganz bewusst hinterlassen! Leicht macht es uns die Wegbeschaffenheit heute nicht, das Profil unserer Schuhe in den Untergrund zu prägen, denn die Wege sind trocken und hart wie des armen Läufers Brot. Bei 6 Grad und Windstille fällt nicht ein Tropfen vom bedeckten Himmel.

Haben sich die Pferde in Aegidienberg zu einer Gang zusammengerottet und ein Gangpferdezentrum gegründet? Jedenfalls findet der Start wie jedes Jahr vor diesem Gangpferdezentrum statt, wo von einem Traktoranhänger herab das Signal gegeben wird, das die Läufer-Gang in Gang setzt. Oder "auf Trab" bringt?

Peter und Ralf fallen direkt in den Galopp. Sie hatten an der Startlinie spontan verkündet, in 3:45 ins Ziel laufen zu wollen. Schon nach zwei Kilometern ist die Nikolausmütze, mit der Ralf den dritten Advent begeht (oder beläuft er ihn?), unseren Blicken entschwunden. Alexander und ich, die wir die andere CO2-Quartett-Hälfte bilden, zuckeln in einem Schnitt von 5:54 hinterdrein.


So bleibt trotz der rund 800 Höhenmeter des Kurses genügend Luft, um die Globalisierung zu thematisieren und Erlebnisse mit der Konkurrenz aus Ost und Fernost am Arbeitsmarkt zu schildern. Das bringt uns direkt zur Sorge um den Nachwuchs, und Alexander benennt mir bisher unbekannte Zugangswege zum Studium. Offenbar haben die durchgenommenen Themen Alexander auf den Magen geschlagen. Nahe Kilometer 17 verabschiedet er sich ins Gebüsch.

3/4-Quartett bei 6,3 Grad Celsius
Fortan bin ich auf mich allein gestellt. Und mein ganzes Trachten richtet sich jetzt darauf, die rote Nikolausmütze wieder einzuholen. Doch so sehr ich mich auch mühe, werde ich bei jeder Geraden, die einen Weitblick nach vorn ermöglicht, aufs Neue enttäuscht. Keine Mütze in Sicht.

Den Kilometer 21 passiere ich nach 1:56:irgendwas. Zu einer 3:45er Zeit bleiben demnach noch eine Stunde und achtundvierzig Minuten für den zweiten Halbmarathon. Das erscheint machbar. Dennoch dauert es bis zur Verpflegungsstation bei Kilometer 33, bis ich die weihnachtliche Kopfbedeckung und ihren Träger eingeholt habe.

Mein gesetztes Ziel ist erreicht. Und ich könnte den Marathon nun im Quartett-Team zu Ende bringen, wie ich es eine ganze Aufholjagd lang geplant hatte. Allein, ich vermag das einmal angeschlagene Tempo nun nicht mehr zu reduzieren und renne einfach weiter!

Während mir ob der ungeplanten Geschwindigkeit der Gedanke durch den Kopf geht, das Belgien-Abenteuer einfach ausfallen zu lassen, setzte ich dennoch den Ausrüstungstest für den Auslandsmatschaufenthalt fort. Neue "Inov8 Terraclaw 220" zieren die Füße. Nur fehlt es am Schlamm, in den die "Klauen" zu schlagen wären. Komplementiert wird das Schuhwerk durch Gamaschen von Salomon namens "Trail Gaiter Low". Und genau diese, heute ohnehin unnötige, Zusatzausrüstung hätte meinem Lauf beinahe ein jähes Ende bereitet.
Höhenprofil Siebengebirgsmarathon
Schon am Start zeigte sich, dass der breite Gummiriemen, der unter dem Fuß verläuft, nicht zwischen die Profilstollen des Terraclaw zu verlegen ist. Somit muss ich bei jedem Schritt mit einigen Stollen auf den Riemen treten. Bei Kilometer 36 schiebt sich der linke Riemen urplötzlich über die Ferse, so dass mir die gesamte Konstruktion ums Bein schlackert und fast zur Fußangel gerät. Wenigstens lässt sich das untaugliche Teil dank des Klettverschlusses mit einem Handgriff abnehmen.

Zuverlässig wie in jedem Jahr steht am letzten Anstieg "Mr. Tambourinman". Als er mir "zutrommelt", funktioniere ich den nutzlosen Gaiter kurzerhand zum Winkelement um und lasse das rote Textil lassogleich überm Kopf kreiseln. Der Tambourinman lacht. Waren die Gamaschen doch noch zu etwas nutze!

Zum Schluss geht es "die Straße runter". Wo auch immer diese Redewendung ihren Ursprung haben mag, hier ist es tatsächlich ganz leicht abschüssig. Unübersehbar sind die kindskopfgroßen Baumkugeln, die alljährlich eine stattliche Konifere in einem der Vorgärten zieren. Die letzten beiden Kilometer sind mit 4:13 und 4:08 relativ schnell vorbei, bevor der Lauf im Grande Finale auf dem roten blauen Teppich in der Festhalle gipfelt. Rot ist immerhin das Band der Medaille, das mir nach 3:37:23 um den verschwitzten Hals drapiert wird.