Dienstag, 23. Mai 2017

Rennsteiglauf Supermarathon 2017

Viele Gründe sprechen dagegen, zwei Wochen nach einem 100er gleich nochmal 73,5 km zu laufen. Als sich spontan eine Mitfahrgelegenheit zum Rennsteiglauf bietet, will mir ganz plötzlich kein solcher Grund mehr einfallen.

Man kennt den Effekt noch aus dem Physik-Unterricht: Ausdehnung bei Erwärmung. Unter dem Einfluss des Treibhauseffekts scheint nun sogar der Rennsteig länger geworden zu sein. Wurden bisher 72,7 km für den Supermarathon veranschlagt, so werden in diesem Jahr 800 m mehr ausgeschrieben. So richtig traut man der ganzen Messerei wohl nicht mehr. Jedenfalls verzichtet der Veranstalter neuerdings darauf, die Distanz auf das Finisher-Shirt zu drucken. Trotzdem will ich es haben!

Ein Supermarathonfinisher oder ein super Marathon-Finisher?

Nach dem am Anschlag gelaufenen 100er verbieten sich allzu hoch gesteckte Ziele, was den Druck auf angenehme​ Weise reduziert. Das Tief zwischen km 60 und 80 vor zwei Wochen war eine üble Erfahrung, so dass ich heute als oberstes Gebot "mit gutem Kopf" unterwegs sein möchte. Ich will ohne Leiden ins Ziel kommen - und vielleicht trotzdem etwas schneller sein als bei meinem ersten Supermarathon vor vier Jahren? Es heißt doch immer, dass man nach einem Langstreckenrennen Bestzeiten auf den Unterdistanzen laufen könne ...

Vorm Start auf dem Eisenacher Markt
Dazu habe ich mir eine Strategie ausgedacht. Ich muss mich bloß auch mal dran halten! Der Trick beim Rennsteig besteht darin, während des langen Anstiegs vom Start bis zum Gipfel des Großen Inselsbergs mit den Kräften zu haushalten. Dieses erste Segment darf ich mit einer 7er Pace zuckeln. Wenn ich danach mit einer 6er Pace ins Ziel laufe, werde ich nach 7:46 Stunden im Ziel sein - elf Minuten schneller als beim ersten Versuch.

Zum Inselsberg


Ich lasse mir Zeit, gehe die steilen Segmente, zum Beispiel vorm Dreiherrnstein und vorm Inselsberg-Gipfel. Das Tempo fühlt sich entspannt an, obwohl die Uhr eine Pace von 6:23 zeigt. Gerne würde ich schneller laufen, denn mir wird immer kälter, je höher wir kommen. Immer wieder sage ich mir "Das Rennen wird nicht auf den ersten 25 km entschieden, sondern auf den letzten 25!"  Es kostet einiges an Disziplin, sich fast drei Stunden lang zu bremsen. Aber es gibt genügend abschreckende Beispiele in der Läuferschar um mich herum, denen die Belastung schon jetzt anzusehen ist.

Bei 100-km-Läufen in Deutschland finden sich meist weniger als 300 Starter. Der Rennsteig-Supermarathon mit seinen 1800 Höhenmetern dürfte kaum wesentlich weniger anstrengend sein, lockt aber rund 2500 Läufer an den Start. Da hat vermutlich nicht jeder ein adäquates Training absolviert.

Auf dem Gipfel bricht endlich die wärmende Sonne durch den Nebel. Eigentlich wollte ich mich von Wasser und Bananen ernähren. Aber wegen der niedrigen Temperaturen greife ich unterwegs dankbar zum heißen Tee. Und zum Schleim! Ich hatte ja völlig vergessen, dass es hier den legendären Haferschleim gibt. Köstlich! Von den ebenfalls feilgebotenen Wiener Würstchen lasse ich aber die Finger.
Tee-Ausschank vor der Kleiderbeutelabgabe

Vom Inselsberg führt ein langer, steiler Abhang zum Kleinen Inselsberg hinunter. Ich lasse es richtig krachen und donnere lustvoll die Piste runter. "Denk an deine Knie.", raunt mir ein erfahrener Läufer zu, der sich vorsichtig zu Tale tastet. Nein, den Spaß gönne ich mir! Schließlich habe ich erst kürzlich auf ganz anderem Untergrund geübt.


Die Hälfte ist geschafft!


Bei der Ebertswiese fingen  bei meinem Debüt die schlechten Gedanken an. Auch heute spüre ich die Beine deutlich. Die Wahrnehmung ist aber positiv. Freudig wird das Schild "Die Hälfte ist geschafft!" registriert. Mein Mantra lautet heute: "Du hast bis jetzt alles richtig gemacht."

Kilometer 50 passiere ich fast exakt nach fünf Stunden. Nur noch ein Drittel! Am Start meinte jemand, wenn man am Grenzadler sei, habe man es praktisch geschafft. Nun ja, damals hatte ich dort bei km 54 eine ganze Weile mit mir gerungen, ob ich nicht die Möglichkeit zum Ausstieg mit offizieller Wertung nutzen sollte. Heute sagt der Moderator beim Durchlauf gerade die 15. Frau an. Den Dreiherrenstein hatte ich noch mit der Frau auf Platz 34 überschritten. Es läuft! Und es fühlt sich gut an, permanent zu überholen, auch wenn das mit der Relativgeschwindigkeit geschieht, die ein Lkw in der linken Autobahnspur gegenüber dem Truck in der rechten aufweist. Natürlich schießt auch hin und wieder mal ein Porsche vorbei. Aber je weiter ich komme, um so mehr havarierte Sportwagen stehen am Rand. "Du hast bis jetzt alles richtig gemacht."

Der ist fertig!


Mittlerweile muss ich etwas fokussierter laufen. Der Blick ist einwärts gerichtet. Vermutlich habe ich gerade mal etwas tiefer durchgeatmet, oder vielleicht galt es auch gar nicht wirklich mir. Jedenfalls schnappe ich die Bemerkung vom Rand auf: "Der ist fertig!" An mir gleitet das ab, weil es einfach nicht stimmt. Aber wie muss sich so ein Kommentar in den Ohren derjenigen anhören, die sich wirklich auf dem Zahnfleisch ins Ziel schleppen?!

Es zieht sich aufwärts. Nicht steil, vor allem nicht steil genug zum Gehen. Aber lang. Ich weiß, dass der höchste Punkt der Strecke markiert ist. Und ganz oben sehe ich ein Schild. "Lass es den höchsten Punkt sein!", denke ich bei jedem Schritt. "Lass es den höchsten Punkt sein!" Und tatsächlich, er ist es! Ab jetzt geht es tendenziell bergab. Die steile Wiese runter zum Schmücke-VP sorgt nochmal für richtigen Lauf-Spaß. Ich mache hier gleich zwei Plätze in der Damenwertung gut.


Retardierendes Moment


Ein Porsche-Läufer, schon in Finisher-Stimmung, versucht einen Geher zu motivieren. Doch der gibt mit gebrochener Stimme zurück: "Bergab geht gar nicht mehr." Gerade bedauere ich den armen Kerl, müssen wir doch jetzt eigentlich nur noch runter ins "schönste Ziel der Welt - in Schmiedefeld", da gibt es einen weiteren, langen Gegenanstieg. Ich gehe ein paar Schritte. Dummerweise schmerzt seit geraumer Zeit beim Gehen mein rechter, hinterer Oberschenkel mehr als beim Laufen. Also laufe ich wieder an. Genau in dem Moment schießt mir ein Krampf in die Innenseite des Oberschenkels. "Was? Jetzt, so kurz vor dem Finale dieses flüssigen Rennens, soll plötzlich alles vorbei sein?!" Krämpfe hatte ich unterwegs noch nie. Was macht man da? Ich laufe weiter. Der Schmerz ist gerade noch so auszuhalten. Nur ein µ mehr und ich stünde auch am Rand. Die Therapie schlägt an. Der Krampf verschwindet so plötzlich, wie er gekommen war.

"Das schönste Ziel der Welt - in Schmiedefeld"
Durch die Menge der ausnahmslos applaudierenden 17-km-Wanderer renne ich Richtung Ziel, das schon seit Langem zu hören ist. Das "Du siehst ja noch ganz entspannt aus!" vom Streckenrand klingt fast ein bisschen enttäuscht. Dann sieht man einen Zielbogen, von dem sich der erfahrene Rennsteigläufer jedoch nicht verwirren lässt. Erst der dritte Bogen ist der wahre. Hier darf endlich gejubelt und geweint werden.

Mittlerweile bin ich geneigt, das Gelingen eines Ultras weniger nach der erreichten Zielzeit als nach dem Befinden unterwegs zu beurteilen. In dieser Wertung liege ich heute ganz weit vorne. Trotzdem muss die Zielzeit von 7:18:22 nicht verschwiegen werden, bedeutet sie doch eine Verbesserung von 39 Minuten. Und ich finde, 13. Frau klingt irgendwie viel besser als 206. Mann.

Montag, 8. Mai 2017

WHEW100 2017

Werner Sonntag postulierte 1978 "Irgendwann musst du nach Biel". Damals mag das richtig gewesen sein. Mittlerweile gibt es aber den WHEW100 praktisch vor meiner Haustür. Also spare ich mir die Reise in die Schweiz und starte in Wuppertal beim 100-km-Lauf.

Morgensonne am Start

Es verspricht ein sommerlicher Tag zu werden. Die Sonne bescheint den Start-/Zielbogen, dessen Rot sich kontrastreich vom wolkenlos-blauen Himmel abhebt. Noch ist es mit 5 Grad recht frisch. Soll man die morgendliche Kühle für ein paar schnelle Kilometer nutzen? Übermotiviert starte ich den Lauf inmitten der Staffelläufer und Run&Bike-Teams, die kaum von den 100-km-Aspiranten zu unterscheiden sind. Ich lassen mich anfangs mitreißen. Das zunächst ansteigende Profil sorgt aber bald für gedrosseltes Tempo.

Soundbikes


Die Strecke verläuft vielfach auf ehemaligen Bahntrassen, die mittlerweile zu Radwegen umgewidmet wurden. Nicht dass ich besonders viele 100er zum Vergleich heranziehen könnte, aber mir scheint, dass das einen eigenen Charakter dieser Veranstaltung schafft. Denn wie bei einem Straßenlauf ist man fast nur auf Asphalt unterwegs. Andererseits führt die Route meistens durchs Grüne. Und so hat sich das Veranstalterteam um Guido Gallenkamp eine Besonderheit zur Streckenbelebung ausgedacht. Es gibt sogenannte Soundbikes. Das sind Lastenräder mit mobilen Lautsprechern, die einen beachtlichen Klang erzeugen. Sie patroullieren auf der Strecke und dienen gleichzeitig als Anprechpartner, Ersthelfer und Streckenposten. Ich finde das Klasse und bin jedes Mal enttäuscht, dass die Räder so schnell vorbeirauschen.

Höhenprofil, 25-km-Zeiten, Platzierung*

Das Höhenprofil kippt. Es geht rund 17 km hinunter ins Ruhrtal. Bei den bisherigen Austragungen bildete dieses Gefälle den finalen Anstieg, da in Gegenrichtung gelaufen wurde. Mehrfach war ich hierher gekommen, um diese fiesen End-Kilometer zu trainieren. Und dann wird kurz vorm Lauf die Richtung geändert!

Der Staffelläufer


Nach 25 km steigen frische Staffelläufer ein. Einer hängt sich an meine Fersen. Als Duo donnern wir zu Tale. Die Pace sinkt unter 5 min. Ich fühle mich großartig. Obwohl mir im Unterbewusstsein klar ist, was das hier gerade für eine Dummheit ist, setze ich die Hatz auch an der Ruhr fort. Der Staffelläufer kann das Tempo irgendwann nicht mehr halten. Ich komme mir ganz toll vor. Es steht allerdings zu befürchten, dass ich in Wirklichkeit leider ein Idiot bin.

Die Hälfte


Von all dem ahnen die Zuschauer bei km 50 nichts. Sie rufen: "Der sieht aus, als wäre er eben erst losgelaufen!" Die Zwischenzeituhr zeigt jedoch, dass der Start vor 4:16 Stunden war.

Hier am Baldeneysee ist läuferisch die Hölle los. Sämtliche Essener Lauftreffs scheinen unterwegs zu sein. Immer wieder begegnen mir große Gruppen, die mit Beifall nicht geizen. Schön!

Archivbild: Die Laufstrecke am Baldeneysee

Dann hole ich die führende Frau ein. Ihr Shirt weist sie als Bezwingerin der Radebeuler Spitzhaustreppe aus, wo erst vor zwei Wochen der Mount-Everest-Treppenmarathon stattfand. Unglaublich, dass sie heute gleich wieder 100 km abspult!

Leinpfad - Leidenspfad


Der Ruhrtalradweg führt über den historischen Leinpfad. Hier wurden früher die Schiffe von den Treidlern gezogen. Stellenweise ist sogar noch das historische Pflaster erhalten - Kopfsteinpflaster! Und "Pfad" trifft es auch. Der Radweg ist so schmal, dass der Schönwetter-Radler-Betrieb langsam nervt, obwohl immer wieder anerkennende Worte von den Pedalisten gerufen werden. Der wahre Grund für meine negative Wahrnehmung liegt in mir selbst. Ab km 60 schwinden mir die Kräfte. Am schlimmsten ist, dass ich mir die ganze Zeit vorwerfen muss, mit meinem verschärften Anfangstempo selbst schuld zu sein. Hinzu kommen Schmerzen im rechten Hüftgelenk, die bis hinunter zum Knie strahlen. Aus meinem Laufen wird zeitweise ein hinkendes Gehoppel, das immer mal wieder kurz in Gehschritten endet. Schmach, Schande! Hatte ich mir doch angesichts des eher flachen Streckenprofils vorgenommen durchzulaufen.

Die führende Frau überholt nun mich. Einziger Trost: auch sie macht Gehpausen! Wenig später zieht Simone Durry geschmeidig vorbei. Sie hat sich das Rennen offenbar besser eingeteilt und wird heute mit neuem Streckenrekord gewinnen.

Ich schaffe es nicht, mich aus meinem mentalen Loch zu ziehen, will nur noch weg aus diesem Ruhrtal und bin froh, als ich endlich abbiegen darf. Auch wenn das nun den Beginn des langen Anstiegs bedeutet.

Rettender Engel


Ich sehne mich dem VP bei km 79 entgegen, heilfroh den Rucksack nebst Trinkflasche mitgenommen zu haben, um solche "Durststrecken" zu überbrücken. Da erscheint mir ein rettender Engel! Sigrid, die dritte Frau, läuft von hinten auf.

"Gleich haben wir 80, und ab da kommen wir durch!", lautet ihre frohe Botschaft. Sigrid überträgt ihre positive Energie auf mich und zieht mich mit. Das ist Ultra!

In welche Liga mich mein morgendlicher Spurt versehentlich katapultiert hat, zeigt sich im Gespräch.

"Ich bereite mich auf die Meisterschaften im 24h-Lauf vor."
"Ach, du willst zu den Deutschen Meisterschaften nach Gotha!"
"Nein, nach Belfast. Zu den Weltmeisterschaften."

Sigrid erzählt, dass sie Mitglied im 24h-Nationalteam ist. Und sie ist sich sicher, die Qualfikationsnorm von 205 km ein weiteres Mal zu erfüllen. Ein Paradoxon: während ich vor Ehrfurcht erstarre, werde ich gleichzeitig mitgerissen. Meine Krise ist vorbei!

Du sollst laufen, nicht gehen!


Am VP versorgt sich meine Begleiterin etwas ausführlicher und delegiert mich schon mal voraus. Als ich mich anschicke,  meinen Becher (an feste Nahrung ist schon länger nicht mehr zu denken) im Gehen zu leeren, ereilt mich ein Ruf im Kasernenhofton: "Du sollst laufen, nicht gehen!" Ich gehorche brav. Sobald wir wieder ein Duo sind, kann ich die weltmeisterschaftliche Pace seltsamerweise mitlaufen.

1000 Meter Klimaanlage


Ich hatte die ganze Zeit geglaubt, dass es eigentlich gar nicht so heiß ist. Wie sehr ich unter der Temperatur gelitten habe, wird mir erst bewusst, als wir den bisher längsten Eisenbahntunnel durchqueren. Seine 1000 Meter wirken wie eine Klimaanlage. Die körperliche Erholung ist regelrecht greifbar. Sigrid spürt die Wirkung offenbar auch. Sie stimmt ein Lied an!

Die letzten vier Kilometer sind einzeln markiert. Uns gelingen nochmal Paces im Bereich zwischen fünf und sechs Minuten. Als ich gerade die achttausendste Kilokalorie verbrenne, wird Sigrid dritte Frau. Wir sind im Ziel!

Auf der vergleichsweise flachen Strecke habe ich meine bisherige 100-km-Zeit ziemlich genau um 50 Minuten verbessert und die neue Marke auf 9:37:28 gelegt. Das bedeutet heute den 14. Platz der Männer und den vierten in der Altersklasse.

Nachzielbereich

Epilog


Im Verpflegungszelt, wo sich die 100-km-Finisher sogar an den aufpreispflichtigen Gourmet-Speisen kostenlos laben dürfen, entspinnt sich folgender Dialog.

"Jetzt laufe ich mal eine ganze Woche überhaupt nicht!"
"Ob du das aushältst?"



* Quelle Höhenprofil: whew100.de

Dienstag, 2. Mai 2017

Düsseldorf Marathon 2017 - (Bei) Sturm ins Ziel


Genau vor zehn Jahren lief ich hier in Düsseldorf meinen ersten Marathon. Zum heutigen Jubiläum habe ich etwas Besonderes vor. Pacer, Hase, Pacemaker, BuZler - offiziell werden sie Brems- und Zugläufer genannt. Ich bin erstmals einer von ihnen und will/darf/muss den Düsseldorf Marathon in 3:30 laufen.

Kleiderbeutelabgabe im Morgenlicht
Egal wie oft man schon an einer Startlinie gestanden hat, der Atmosphäre eines großen Städtemarathons kann man sich nicht völlig entziehen. Obwohl die gasgefüllten Luftballons mit der "3:30"-Aufschrift meine Schultern nach oben ziehen, lastet das Gewicht der damit verbundenen Verantwortung auf ihnen. Es gilt, punktgenau die Erwartungen der Läufer zu erfüllen, die unter dreieinhalb Stunden finishen wollen. Denn inoffiziell wird die am Rücken aufgedruckte "3:30" wohl als 3:29 interpretiert.

Wir starten als Trupp von fünf Gelbballonten bei angenehmer Kühle, blauem Himmel und herrlicher Morgensonne. Es verspricht perfektes Laufwetter zu werden. Nur die für den Nachmittag angekündigten heftigen Winde könnten eventuell das Läuferglück trüben.

Mein Ballons (rechts)
Man hatte uns gebeten, nicht als eine Ballon-Gruppe zu laufen, sondern das Feld vorn zu bremsen und hinten zu ziehen. Der Auftrag bedeutet auch, die ganze Zeit im dichten Läufermeer zu laufen. Der Pulk ist so groß, dass ich es nicht rechtzeitig schaffe, an die erste Verpflegungsstelle hinüber zu wechseln. Das ist in Düsseldorf aber kein Problem. Es kommen noch genug. Ich will heute ohnehin nichts außer Wasser zu mir nehmen.

Gerieten die ersten Kilometer in der Enge des Feldes noch zu langsam, beschleunigen wir leicht, so dass die 10-km-Marke punktgenau erreicht wird. Doch das forcierte Tempo wird beibehalten. Ich lasse mich zwar immer mehr von den vorderen Ballons zurückfallen, passiere den Halbmarathon dennoch eine Minute zu früh. Und dann geschieht es. In einer Kurve wickeln sich meine Ballonleinen um ein Verkehrsschild und reißen ab. Lustigerweise bedeutet das sofortigen Autoritätsverlust. Obwohl ich immer noch ein Rückenschild mit der Zeitvorgabe trage, verlässt mich der Läufer, der mir die ganze Zeit nicht von der linken Seite gewichen war, und schließt sich den Ballonträgern vor mir an.

Dann zieht die Startnummer mit dem Namensaufdruck "Paula" vorüber. Aus dem knappen rosa Höschen ragen überraschend krumme Beine. Spätestens der struppige Vollbart macht klar, dass hier jemand mit einem übernommenen Startpass unterwegs zu sein scheint.

Nachzielbereich am Burgplatz

Unsere Ballontruppe hat sich mittlerweile in alle Winde verstreut. Und das im Wortsinne. Auf dem Weg zu Kilometer 28 muss man zum ersten Mal lange gegen den inzwischen sehr starken Nord-Ost ankämpfen. So mancher Bestzeitentraum dürfte hier weggeblasen werden.

Ich bin ab jetzt ziemlich konstant mit passender Pace unterwegs. Aber es sind scheinbar nicht die Marathonneulinge, die sich mir anschließen. Ein Ultraläufer, der hier Kilometer als Biel-Vorbereitung sammelt, hat unterwegs versehentlich seine Uhr gestoppt und nutzt mich als Ersatz.

Als wir durch die Rethelstraße laufen, weist ein Banner am Haus darauf hin, dass das dortige Bordell im Rahmen einer "Haushaltauflösung" sein Inventar verkauft. Kopfkino auf dem nächsten Kilometer.

Völlig windstille Abschnitte wechseln mit sturmdurchtosten Straßen. Erstmalig höre ich das seltsame Geräusch, das entsteht, wenn eine Bö Hunderte Pappbecher über den Asphalt treibt. Der Wind wirbelt nicht nur Trinkgefäße und Absperrgitter durch die Luft, sondern auch Staub und Pollen auf. Ich habe die Augen davon voll. Und offenbar auch die Schnauze, denn es kratzt sogar im Rachen.

Wenn ich in den Vorjahren auf der Düsseldorfer Strecke unterwegs war, habe ich mir - auch ohne besonderes Zeitziel - einen Endspurt nicht nehmen lassen. Das verbietet sich heute. Dadurch registriere ich zum ersten Mal, wie schön das Panorama des Zieleinlaufs unter einem liegt, wenn man zum Rhein einbiegt. Rheinufer, Schloßturm, Brücke und dahinter das Riesenrad der Kirmes werden vom sonnenbeschienenen Oberkasseler Ufer auf der anderen Rheinseite flankiert.


Freibier im Biergarten im Nachzielbereich
Nach 3:29:05 wird mir Zugang zum Biergarten am Rhein mit Erdinger-Freibier-Ausschank gewährt. Das habe ich so in noch keinem anderen Marathon-Nachzielbereich gesehen. Nach dem ganzen Unterwegs-Gewässer gönne ich mir ein paar alkoholfreie Hefeweizen in der Sonne und hänge meinen Gedanken nach. War das heute wirklich die richtige Belastung so kurz vor dem 100er am nächsten Samstag?