Montag, 19. Dezember 2016

Blegny – Trail des Gueules Noires


Zwei junge Männer mit rußgeschwärzten Gesichtern stehen neben mir an der gedachten Startlinie. "Poser!", denke ich, bevor mir aufgeht, dass wir hier beim "Trail der schwarzen Gesichter" zu Gast sind. Die Veranstalter wollen damit der belgischen Steinkohleförderung in Blegny gedenken. Und natürlich führt der Track auch über die Halde des ehemaligen Bergwerks. Schließlich wollen die knapp 2000 Höhenmeter auf den 53 Kilometern irgendwie gesammelt sein.

Sieht man sonst vor einem Lauf reihenweise emporgereckte Uhren um GPS-Empfang ringen, bleiben die belgischen Trailliebhaber ganz entspannt bis zur letzten Minute ausnahmslos in der gut geheizten Anmeldehalle. Bei drei Grad will niemand draußen herumbibbern, auch wenn es trocken und nahezu windstill ist. Außerdem befindet sich der Start direkt vor der Tür.
Halde Blegny - der Anstiegswinkel ist gut zu sehen
"Bin ich im falschen Film? Ich wollte doch keinen Städtemarathon laufen!" Es geht hinter einem Führungsfahrzeug auf Asphalt durch den Ort! Nach wenigen Hundert Metern folgt dem Schrecken die Erleichterung. Eine Dame im Weihnachtsdress weist uns den Weg ins belgische Farmland. Das erste von ungezählten Weidegattern ist zu passieren.

Es verspricht, ein herrlicher Tag zu werden. Das weiche Morgenlicht der aufsteigenden Sonne fällt auf bachdurchmurmelte Wiesen, und blattlos baumbestandene Weiden. Immer wieder säumen protzige Landgüter den Pfad. Da bist du nur ein paar Kilometer hinter der deutschen Grenze, und schon sieht alles ganz anders aus!

Die knöcheltief zertrampelten Gehege sind kein einfacher Untergrund, aber noch geht es flach dahin. Bis die Halde in ihrer dreckigen Pracht am Horizont auftaucht! Kaum hochgequält, führt die Markierung neben einer Treppe wieder im rutschig-feuchten Abraum hinab.

Halde Blegny
Es folgt eine schier unendliche Aneinanderreihung kleiner Geheimtipp-Pfade. Und wo so ein Tipp gefehlt hat, schickt uns der Streckenverantworliche einfach weglos durchs Gehölz. Ich meine eine gewisse Vorliebe des Meisters für Hohlwege zu spüren. Es ist steil, es ist wurzelig, rutschig, steinig, schlammig, nass. Ja, ein bisschen Asphalt ist auch dabei. Und der ist gefährlich, weil morgens noch überfroren. Auch auf feuchtem Kopfsteinpflaster will der Terraclaw 220 an meinem Fuße nicht greifen.


Ansonsten funktioniert meine - nach dem Test letzte Woche - optimierte Ausrüstung. Die breiten, losen Riemen der Salomon-Gamaschen habe ich einfach rausgeschnitten und durch Draht ersetzt. Im Gegensatz zum Gummiriemen lässt der sich zwischen den Profilstollen verlegen. Dadurch sitzen die Gaiters fest und rutschen nicht hoch. Schlamm, Dreck und Steine bleiben draussen.

Inov-8 Terraclaw 220 mit gepimptem Salomon Gaiter Low
Aber Wasser kommt natürlich trotzdem rein. Und dafür gibt es so reichlich Gelegenheit, dass ich zwischenzeitlich bereue, keine wasserfesten Socken angezogen zu haben. Oft genug führt die orange Klebeband-Streckenmarkierung durch nasses Gras oder schlammige Wiese. Aber mehrfach sind auch Bäche steglos zu passieren. Einmal ist das ganz besonders fies. Ich renne den Brückenkopf hoch, nur um dort oben feststellen zu müssen, dass die zugehörige Brücke fehlt und ein Sprung in den Bach unvermeidlich ist.

Eine besonders steile Stelle klafft als Abgrund irgendwo in einem Grubengelände. Mein Vordermann weiß sich nicht anders zu helfen, als sich hinzuhocken und sich mit den Händen zu Tal zu schieben. Die Technik muss ich mir merken! Das Ganze gibt es in diesem extremen Winkel hin und wieder auch anders herum. Dort geht es dann nur auf allen Vieren hoch.


Gefühlte 20 Kilometer läuft ein etwas älterer Trailfreund direkt in meinem Kielwasser. Immer wieder macht er mit lauten Rülpsern auf sich aufmerksam. Als es wieder einmal weglos durchs Unterholz geht, lässt er kein Bäuerchen, sondern einen markerschütternden Schrei vernehmen. Ich laufe sofort zurück, da hat er sich nach seinem Sturz schon wieder aufgerappelt, hält sich aber das Bein. Dennoch folgt er mir weiter, lässt aber immer wieder Schmerzenslaute hören. Fassen wir also zusammen, der Mann ist älter, der Mann ist verletzt. Und trotzdem hängt er mich irgendwann an einem Hang ab. Er humpelt schneller, als ich gehen kann!


Obwohl ich den Lauf einigermaßen defensiv begonnen habe, ist in den hohen Dreißigern für mich der fröhliche, im Flow durchlebte Trailspaß zu Ende. Ich wünsche, es wäre nur ein Marathon und sehne die zweite Verpflegungsstelle bei Kilometer 41 herbei. Dort gibt es die belgische Version der 5-Minuten-Terrine. Heiß, salzig, herrlich! Mein Liter Apfelschorle ist seit geraumer Zeit ausgetrunken. Ich fülle die Flaschen mit Iso auf und schütte mit dem Durst eines Schiffbrüchigen soviel kaltes Getränk in mich hinein, wie es der flaue Magen hoffentlich verträgt.

Eine Banane und ein paar Gehschritte bringen etwas Erholung. Die plötzlich erstaunlich flache und einfache Wegführung tut ihr Übriges, um die schmerzenden Beine, die ganz offenbar kein adäquates Bergtraining hatten erfahren dürfen, ein wenig zu beruhigen.

Die Sonne hat ihr morgendliches Versprechen nicht gehalten. Feuchtigkeitsgesättigte Luft wartet nur darauf als Niesel zu kondensieren und lässt kaum noch einen Weitblick zu. Da wird im Dunst der Umriss einer weiteren Halde sichtbar!

Halde, unteres Segment

Ich unterdrücke ein bitteres Lachen und gebe mich keiner Illusion hin. Da wird es gleich nochmal drüber gehen. Und schon ragt sie vor mir auf. Schlammig, rutschig, hässlich. Doch ihr magerer Bewuchs ist mein Freund. Hat er mir doch ein abgewinkeltes Stöckchen hinterlassen, das mir bei meinem Aufstieg als Krücke dient, auf die ich mich mit beiden Händen stützen kann. Der Leidensgenosse vor mir hat es schon zum kargen Gipfel geschafft, dreht sich um und blickt zu mir herab. Wir grinsen nur müde. Selten ist mit einem einzelnen Gesichtsausdruck so viel Information ausgetauscht worden.

Halde, Mittelteil (im Hintergrund finaler Anstieg)
Heil auf der anderen Seite am Fuße des elenden Dreckhaufens angekommen, werde ich von Zuschauern beklatscht: "Bravo, Courage!" Unter ihnen einer der Jünglinge vom Start, das schwarze Gesicht notdürftig gewaschen. Ich mag gerade eine weitere, lange Lektion in Demut erfahren haben. Aber aufgegeben habe ich nicht!

Allerdings bin ich wohl nicht mehr ganz Herr meiner Sinne. Der Blick und die Gedanken schweifen ab. Ich habe all' diese halsbrecherischen Passagen überstanden, nur um jetzt auf ebenem, breiten Feldweg zu stolpern und zu stürzen. Instinktiv rolle ich ab. Mein Geroller kommt gerade noch rechtzeitig vor dem Stacheldraht-Weidezaun zum Stehen und ich dort zum Liegen. Niemand hat's gesehen, schnell weiter!

Den letzten der drei Verpflegungspunkte ignoriere ich und erreiche nach einem weiteren Kilometer den Zielbogen direkt vor dem Start-/Zielgebäude. Doch noch ist der Lauf nicht zu Ende. Erst als ich die Flügeltür zur Halle öffne, wo der Zeitnehmer im Warmen wartet, werde ich mit 6:10:33 registriert.

Höhenprofil


Mittwoch, 14. Dezember 2016

Siebengebirgsmarathon – 7G 2016

Man muss nicht in Frankfurt laufen, um in einer Festhalle zu finishen. Das geht auch beim Siebengebirgsmarathon.

Wartender Fotograf am Zieleinlauf im Bürgerhaus Aegidienberg
Seit 2013 habe ich dort jeweils den läuferischen Jahresausklang zelebriert. Diesmal habe ich noch etwas mehr vor. "Irgendwann will ich beim 7G unter 3:30 bleiben, doch in diesem Jahr muss ich betont langsam laufen, denn eine Woche später steht noch ein belgischer Ultratrail in meinem Laufkalender.", so schrieb ich vorab an meine Laufpartner.

Wir sind zu viert angereist, um unseren CO2-Fußabdruck zu reduzieren. Unsere Trittspuren im Boden der siebengebirgischen Waldwege wollen wir hingegen ganz bewusst hinterlassen! Leicht macht es uns die Wegbeschaffenheit heute nicht, das Profil unserer Schuhe in den Untergrund zu prägen, denn die Wege sind trocken und hart wie des armen Läufers Brot. Bei 6 Grad und Windstille fällt nicht ein Tropfen vom bedeckten Himmel.

Haben sich die Pferde in Aegidienberg zu einer Gang zusammengerottet und ein Gangpferdezentrum gegründet? Jedenfalls findet der Start wie jedes Jahr vor diesem Gangpferdezentrum statt, wo von einem Traktoranhänger herab das Signal gegeben wird, das die Läufer-Gang in Gang setzt. Oder "auf Trab" bringt?

Peter und Ralf fallen direkt in den Galopp. Sie hatten an der Startlinie spontan verkündet, in 3:45 ins Ziel laufen zu wollen. Schon nach zwei Kilometern ist die Nikolausmütze, mit der Ralf den dritten Advent begeht (oder beläuft er ihn?), unseren Blicken entschwunden. Alexander und ich, die wir die andere CO2-Quartett-Hälfte bilden, zuckeln in einem Schnitt von 5:54 hinterdrein.


So bleibt trotz der rund 800 Höhenmeter des Kurses genügend Luft, um die Globalisierung zu thematisieren und Erlebnisse mit der Konkurrenz aus Ost und Fernost am Arbeitsmarkt zu schildern. Das bringt uns direkt zur Sorge um den Nachwuchs, und Alexander benennt mir bisher unbekannte Zugangswege zum Studium. Offenbar haben die durchgenommenen Themen Alexander auf den Magen geschlagen. Nahe Kilometer 17 verabschiedet er sich ins Gebüsch.

3/4-Quartett bei 6,3 Grad Celsius
Fortan bin ich auf mich allein gestellt. Und mein ganzes Trachten richtet sich jetzt darauf, die rote Nikolausmütze wieder einzuholen. Doch so sehr ich mich auch mühe, werde ich bei jeder Geraden, die einen Weitblick nach vorn ermöglicht, aufs Neue enttäuscht. Keine Mütze in Sicht.

Den Kilometer 21 passiere ich nach 1:56:irgendwas. Zu einer 3:45er Zeit bleiben demnach noch eine Stunde und achtundvierzig Minuten für den zweiten Halbmarathon. Das erscheint machbar. Dennoch dauert es bis zur Verpflegungsstation bei Kilometer 33, bis ich die weihnachtliche Kopfbedeckung und ihren Träger eingeholt habe.

Mein gesetztes Ziel ist erreicht. Und ich könnte den Marathon nun im Quartett-Team zu Ende bringen, wie ich es eine ganze Aufholjagd lang geplant hatte. Allein, ich vermag das einmal angeschlagene Tempo nun nicht mehr zu reduzieren und renne einfach weiter!

Während mir ob der ungeplanten Geschwindigkeit der Gedanke durch den Kopf geht, das Belgien-Abenteuer einfach ausfallen zu lassen, setzte ich dennoch den Ausrüstungstest für den Auslandsmatschaufenthalt fort. Neue "Inov8 Terraclaw 220" zieren die Füße. Nur fehlt es am Schlamm, in den die "Klauen" zu schlagen wären. Komplementiert wird das Schuhwerk durch Gamaschen von Salomon namens "Trail Gaiter Low". Und genau diese, heute ohnehin unnötige, Zusatzausrüstung hätte meinem Lauf beinahe ein jähes Ende bereitet.
Höhenprofil Siebengebirgsmarathon
Schon am Start zeigte sich, dass der breite Gummiriemen, der unter dem Fuß verläuft, nicht zwischen die Profilstollen des Terraclaw zu verlegen ist. Somit muss ich bei jedem Schritt mit einigen Stollen auf den Riemen treten. Bei Kilometer 36 schiebt sich der linke Riemen urplötzlich über die Ferse, so dass mir die gesamte Konstruktion ums Bein schlackert und fast zur Fußangel gerät. Wenigstens lässt sich das untaugliche Teil dank des Klettverschlusses mit einem Handgriff abnehmen.

Zuverlässig wie in jedem Jahr steht am letzten Anstieg "Mr. Tambourinman". Als er mir "zutrommelt", funktioniere ich den nutzlosen Gaiter kurzerhand zum Winkelement um und lasse das rote Textil lassogleich überm Kopf kreiseln. Der Tambourinman lacht. Waren die Gamaschen doch noch zu etwas nutze!

Zum Schluss geht es "die Straße runter". Wo auch immer diese Redewendung ihren Ursprung haben mag, hier ist es tatsächlich ganz leicht abschüssig. Unübersehbar sind die kindskopfgroßen Baumkugeln, die alljährlich eine stattliche Konifere in einem der Vorgärten zieren. Die letzten beiden Kilometer sind mit 4:13 und 4:08 relativ schnell vorbei, bevor der Lauf im Grande Finale auf dem roten blauen Teppich in der Festhalle gipfelt. Rot ist immerhin das Band der Medaille, das mir nach 3:37:23 um den verschwitzten Hals drapiert wird.

Montag, 28. November 2016

Jubiläumslauf in Bertlich

Zum hundersten Mal werden die Bertlicher Straßenläufe ausgetragen. Dieses Jubiläum will ich mit meinem fünfzigsten (Ultra-)Marathon koppeln. Der Blog-Titel steht auch schon fest: "Der 50. beim 100."  In letzter Minute macht die Pulsmesser-Buchhaltung (ich zähle nochmal durch) dem Plan einen Strich durch die Rechnung. Es wird schon der Einundfünfzigste.


Kurz nach dem Start schließt Marcel zu mir auf. Und es sieht so aus, als ob wir wieder als Plauder-Duo ins Ziel laufen werden. Doch da gesellt sich Matthias dazu und wandelt uns zum Trio. Ob es an der von uns in Runde Eins ausführlich dargelegten Zukunft der Elektromobilität liegt oder eher an unserer 5er Pace, ist nicht genau auszumachen. Unser Windschatten dürfte angesichts der Flaute zumindest keine Rolle spielen. Trotzdem führen wir ein kleines Fähnlein an. Auch die erste Frau hat sich unserem wilden Haufen angeschlossen. 

Aber so ist es beim Marathon. Die Truppe schmilzt dahin. Auf der zweiten der drei Runden verlieren wir auch die Siegerin in spe. Und selbst Marcel setzt sich ab. Er tut ein gutes Werk und stellt sich einem achtzehnjährigen Marathon-Debütanten erfolgreich als 3:30-Pace-Maker zur Verfügung.

Also wieder Duo. So komme ich heute doch noch zu einem Doppel-Jubiläum. Denn Matthias feiert hier gerade seinen Geburtstag. Obwohl ich mittlerweile der einzig verbliebene Party-Gast bin, ist die Stimmung sehr gut. Eine Anekdote jagt die nächste. Besonders beeindruckend ist die Geschichte vom 81-jährigen Finisher, der die Frage, warum er mit 72 Jahren seinen ersten Marathon gelaufen sei, beantwortet: „Na, weil ich erst mit 70 zu laufen anfing!

Bei einer anderen Anekdote sind wir live dabei. Der straßensperrende Polizist ruft seinem Kollegen zu: "Scheint wieder Fußball zu sein. Die Autofahrer haben alle solche Schale um den Hals." Schale? Schalen? Schals? Oder gar Schäler für die Hälser? Wir einigen uns darauf, dass sich die Fahrer heute in Schale geworfen haben.

Auf Runde Drei hält sich ein Herr in Grün längere Zeit in unserem Fahrwasser, bevor er längsseits geht: „Für mich ist das hier mein zweitschnellster jemals gelaufener Marathon. Aber wenn ich wie ihr die ganze Zeit quatschen würde, könnte ich dieses Tempo niemals halten.“ Mein Augenzwinkern übersehen offenbar beide Gesprächspartner, als ich erwidere: „Dann möchtest du also nicht mitziehen, wenn wir gleich unseren furiosen Endspurt hinlegen?“ Matthias entfährt ein entsetztes: „Was machen wir gleich!?

Obwohl es als Scherz gemeint war, sind wir plötzlich wie die Tiere, die den Stall wittern. Die Ziellinie entfaltet ihre magische Anziehungskraft. So einer Sammel-Umkleide ist ja durchaus ein gewisser Stallgeruch zu eigen. Wir stellen die Gespräche ein und überlassen den Grünen mitleidslos seinem Schicksal. Vielleicht liegt es auch am starken Harndrang, der uns beide schon seit Runde Eins plagt. Jedenfalls bekommt dieser schöne lange Tempolauf mit einer Endbeschleunigung sein I-Tüpfelchen. Aus der ursprünglich ins Auge gefassten 3:30 wird letztlich eine 3:26:10.

Solch eine locker herbeigeplauderte Zeit reicht natürlich nicht für den Altersklassenpokal. Für das Glitzerzeug ist der Junior zuständig, der zwischenzeitlich die Prämie beim 10er abgeräumt hat. Nachdem wir im Anschluß noch die medaillenbehangene Tochter aus der Schwimmhalle geholt haben, gönnen wir uns gemeinsam dieses zufriedene, reuelose Sofalümmeln, das nur nach exzessivem Sport möglich ist.

Montag, 21. November 2016

Kaiserpark Ultra

Ein Sturmtief fegt über den Westen Deutschlands. Wir fegen durch den Kaiserpark.

Hätten Svenja und Dennis John nicht zum Kaiserpark-Ultra über 45 Kilometer eingeladen, würde ich mir windgepeitschte Baumkronen und von Böen aufgewirbeltes Herbstlaub gemütlich vom Sofa aus anschauen. So aber bin ich mittendrin im Kaiserpark und in den tobenden Elementen.

Dreißig Runden durch den Park sind zu drehen! Die nächste Stufe ist Hallen-Marathon.

Laufstrecke im Morgengrauen
Dennis markiert mit erstaunlicher Beweglichkeit auf der ersten Runde die Strecke, indem er in vollem Lauf kurz in die Hocke geht und Kreidestriche zieht. Spätestens nach der fünften Runde setzt aber eine gewisse Streckenkenntnis ein, so dass vom Regen verwaschene Markierungen durchaus zu verschmerzen sind.

Ich lerne Marcel kennen, und zwar ziemlich gut. Denn als Führungsduo kommen wir etwa zur Halbzeit zu der Übereinkunft, bis zum Schluss gemeinsam zu laufen. So bleibt genügend Zeit für ausführliches Läufergespräch. Es stellt sich heraus, dass wir die gleichen Vorlieben hinsichtlich Drogenkonsum und Ernährung haben. Nun ja, mancher hätte statt "Vorlieben" vielleicht von "Einschränkungen" gesprochen. Trotzdem malen wir uns schon aus, wie wir den ganzen Nachmittag hochzufrieden auf der Couch liegen und rumfressen werden.

Zunächst begnügen wir uns jedoch mit je einem Tässchen Tee nach der 16. und der 25. Runde. Die Verpflegungsstation wurde aufgrund der Witterung in einen Parkpavillon, etwas abseits der Strecke, verlegt. Somit gilt es, Umwege zu minimieren.

Während wir dem Wind beim Verdunsten der Pfützen zusehen können, geht allmählich die "Streckenkenntnis" in ein "Jetzt habe ich aber wirklich alles gesehen" über. Und auf der letzten Runde ist die Freude groß, nie wieder den windausgesetzten Gipfelgrat ehemaligen Bahndamm, der den Park nach Osten begrenzt, erklimmen zu müssen. Immerhin haben wir auf der eigentlich flachen Strecke etwa 300 Höhenmeter gesammelt, als wir nach 3:51:59 die virtuelle Ziellinie überschreiten.

Das unsichtbare Kunstwerk im Park*
Rechtzeitig zum Mittagessen sitze ich wieder zu Hause am Tisch, prahle mit meiner umfassenden Kenntnis des Kaiserparks und lasse stolz meine Urkunde herumgehen. Doch als mein Sohn fragt, ob ich denn auch das auf dem Leistungsnachweis abgebildete Kunstwerk gesehen hätte, muss ich passen. Da werde ich wohl beim nächsten Kaiserpark-Ultra noch ein paar Runden drehen müssen.

*Foto: Wkipedia

Mittwoch, 2. November 2016

Strahlen beim Röntgenlauf

Ein Sonnenaufgang wie aus dem Bilderbuch! Die wenigen Dunstfetzen am Himmel sind in das rötliche Morgenlicht getaucht. Von den Bäumen leuchtet Blattgold, und zwischen den Hügeln hängt noch Nebel im Tal. So präsentiert sich das Bergische Land bei der Anfahrt zum 63,3 Kilometer langen Röntgenlauf.

Widersprüchliche Pläne


Am Start wärmen die Strahlen der Sonne bereits. Und auch so manches Gesicht strahlt voller Vorfreude. Meins ist ganz klar dabei. So ein phantastisches Wetter hatte ich noch bei keinem Start hier. Ich nehme mir vor, den Tag in der Natur zu genießen. Dummerweise habe ich mir noch mehr vorgenommen. Ich will heute nämlich mindestens Bestzeit (also unter 6:22), aber eigentlich sogar unter sechs Stunden laufen. Der Widerspruch fällt mir nicht auf. Noch nicht.

Dixies im Morgenlicht

Nachdem ich den letztjährigen Jubiläums-Röntgenlauf über 100 Kilometer in 10:27 beendet hatte, war ich zu der vermessenen Einschätzung gelangt, die 63 Kilometer in sechs Stunden bewältigen zu können. Ich müsste also mit einem 5:40er Schnitt ins Ziel laufen. Nur, so einfach ist das ja nicht, wenn die Strecke profiliert ist. Es gilt, auf flachen oder abfallenden Passagen den Zeitverlust an den Anstiegen rauszulaufen. Außerdem ist davon auszugehen, dass die Pace gegen Ende wohl etwas einbricht.

Lauffreude


Also laufe ich gutgelaunt munter drauflos. Es pendelt sich ein 5er Schnitt ein. Viel zu schnell, fühlt sich aber gut an. "Da lauf´ ich ein schönes Polster raus!" Sonst runzle ich weise die Stirn, wenn ich solche Formulierungen höre oder lese. Mir lasse ich den Blödsinn heute jedoch durchgehen. Noch freue ich mich am blauen Himmel und dem bunten Laub.

Nach knapp 1:45 ruft der Moderator beim Halbmarathonziel: "'Pulsmesser', mein Lieber, jetzt hast du nur noch einen Marathon vor dir! Und könnte man seinen Sonntag schöner verbringen als hier beim Röntgenlauf im Bergischen Land?" Ich jubele den nächsten Anstieg hoch. Der Lauf ist die pure Freude.

Virtuelle Fotos


Das Wetter sorgt für geniale Fotomotive. Nur habe ich wegen des selbstauferlegten Zeitziels keine Muße zum Knippsen. So mache ich ein paar virtuelle Kopf-Fotos. "Rostlaub" nenne ich das Foto unter der Müngstener Brücke, deren oxidierte Träger farblich mit den sonnenbeschienenen Bäumen am anderen Ufer korrespondieren. Auch der "Elefantenmensch" wird innerlich abgelichtet. Aus unerfindlichen Gründen hat sich einer der Zuschauer einen riesigen Plüsch-Elefantenkopf über seinen eigenen Schädel gestülpt.
Startaufstellung Röntgenlauf 2016

Später stosse ich auf die führende Marathonfrau, die scheinbar in 3:30 finishen will. Jedenfalls sind wir längere Zeit im gleichen Bereich unterwegs, bis sie irgendwann zurückfällt. Und auch ich beginne Federn zu lassen. Sah es bei der halben Distanz noch nach einem theoretischen Finish in fünf Stunden vierzig aus, so wird es ab Kilometer 37 ziemlich schwer. Für den zweiten Halbmarathon brauche ich dann schon fast zwei Stunden. Es bleiben also noch zwei Stunden und 15 Minuten für den dritten und letzten Halbmarathon. Klingt machbar, wird aber schwer werden.

Und dann musst du halt zu Ende laufen


"Da habe ich mich vom Bestzeitenzwang auf der Marathonstrecke frei gemacht. Und nun fange ich den Quatsch beim Ultra an!", hadere ich mit meiner Vorgabe. Andererseits hilft so ein Ziel doch ungemein, um sich immer wieder am Riemen zu reißen.

Mein Riemen ist aber runter. Die hinteren Oberschenkel schmerzen bis ins Gesäß. Muss wohl zu wenig Beinkrafttraining gewesen sein. Am VP bei etwa Kilometer 47 muss ich gehen! Während dieser rund 100 Geh-Meter esse ich genüsslich einen dieser köstlichen Müsliriegel der Sponsoren-Bäckerei. Und in dieser Erholungsphase dringt die Erkenntnis zu mir durch: das ist jetzt nur eine Krise, die geht wieder vorbei! Allein schon diese Einsicht bringt den Durchbruch. Ich trabe wieder an. Michiel, der schweizer Ironman, der heute seinen ersten Ultra läuft, und mich ein Stück begleitet (bevor er am Horizont entschwindet), wird es im Ziel so zusammenfassen: "Bis Marathon war es gut. Und dann musst du halt zu Ende laufen."

Die sechs Stunden sind weg


Mit dem Genuss ist es jetzt also definitiv vorbei. Die Reserve auf die sechs Stunden wird knapper und knapper. Ich mag gar nicht mehr auf die Uhr schauen. Die Pace steigt unaufhörlich. 5:30, 5:35, 5:37. Und dann das Unvermeidliche: 5:40, 5:41, 5:42. Die sechs Stunden sind weg!

Ich tröste mich eine Weile mit der neuen Bestzeit. Dann fällt mir ein, dass mich beim Wupperbergemarathon die GPS-Messung genarrt und mir eine zu langsame Geschwindigkeit vorgegaukelt hatte. Und auch hier habe ich an den Kilometer-Markierungen jeweils eine etwas geringere Strecke auf der Uhr. Ich schöpfe neuen Mut.

Licht und Schatten beim Röntgenlauf
Das 60-Kilometer-Schild bringt nach etwas Kopfrechenarbeit die Gewissheit. "Es klappt! Es klappt!", wird zu meinem Mantra, mit dem ich mich vorantreibe. Dass mich einen Kilometer vorm Ziel noch die führende Frau überholt, muss ich hinnehmen. Ich will heute ja nicht Siegerin werden, ich will die sechs Stunden knacken! Zum Glück kenne ich den Rest der Strecke und freue mich paradoxerweise auf den letzten Anstieg. Einfach, weil er definitiv der letzte ist, und unmittelbar danach (jedenfalls relativ zur Gesamtdistanz) das Ziel liegt.

Tja, und dann bin ich drin. 5:57:08. Kein Freudentaumel, kein Endorphinrausch, keine Tränen. Aufgabe erfüllt. Erledigt!

Erst beim Gang zur Sporthalle kommt das Glück zu mir. "Grus, grus", ertönt der typische Ruf. Zwei Kranich-Schwärme kreisen am blauen Himmel. Die Vögel des Glücks. Den Kopf im Nacken bleibe ich stehen, bis mir kalt wird.


Freitag, 28. Oktober 2016

Trailrunning Algarve



„Please hold tight now. We will do a landing on the sand – like James Bond!“, ruft der Bootsführer und stellt den Gashebel des Außenbordmotors auf “Volle Kraft”. Wir rasen mit Höchstgeschwindigkeit direkt auf den Strand zu. Einen kräftigen Ruck später schießt das Boot auf den Sand, so dass wir die einsame Bucht trockenen Fußes erreichen.

Es gibt hier an der Algarve inmitten des Steilufers jede Menge solcher Strände, die nur per Boot erreichbar sind. Nach der gestrigen Bootstour schaue ich mir die Buchten heute mal von oben an - bei einem Trail-Lauf entlang der Steilküste.

Ich starte beim Leuchtturm von Carvoeiro und laufe Richtung Osten auf dem steinigen, felsigen Trampelpfad, der direkt entlang der Klippen führt. Vier Stunden will ich unterwegs sein. Der simple Plan sieht eine Umkehr nach der Halbzeit vor.
 
Benagil Höhle*
So richtig komme ich nicht vorwärts, denn ständig lockt ein atemberaubender Buchtblick zum Verweilen und Fotografieren. Ich komme auch am Strand von Benagil vorbei, von dem aus ich neulich in die berühmte Höhle „Grutas de Benagil“ geschwommen bin, die einen eigenen Strand beherbergt, der durch eine Öffnung in der Decke von der Sonne beschienen wird.
 
Blick in einsame Bucht
Obwohl am Ende nur gut 600 Höhenmeter auf der Uhr stehen werden, sind immer wieder felsige Steilstufen zu überwinden, teilweise unter Zuhilfenahme der Hände. Manchmal ist der Weg so dicht zugewuchert, dass das Gestrüpp wie Fußangeln wirkt. Wo es höher steht, zerkratzt es mir die nackten Arme. Mein Shirt ist klitschnass, obwohl es mit 22 Grad nicht zu heiß ist. Doch die pralle Sonne und die ungewohnt hohe Luftfeuchtigkeit scheinen so schweißtreibend zu wirken.
 
Ein Pärchen zeltet auf der Klippe über dem Praia de Marinha
Deshalb bin ich auch hin und her gerissen, als das Naturidyll plötzlich in Bebauung endet. Denn inzwischen ist mir klargeworden, dass der mitgenommene Liter Wasser nicht ausreichen wird. So bin ich froh, nachher auf dem Rückweg hier Getränk nachkaufen zu können. Andererseits ist der wunderschöne, große Sandstrand von Armação de Pêra mit hässlichen Hochhäusern verschandelt worden.
 
Praia de Marinha
Als ich Strandpromenade und Ort hinter mir gelassen habe, wird der Strand sehr einsam. Ein Fluß mündet hier ins Meer. Ich müsste ihn durchwaten, um weiter am leeren Strand oder in dem sich dahinter erstreckenden Dünengebiet zu laufen. Nur dann hätte ich den weiteren Weg mit sandigen Füßen zu bestreiten. Daher laufe ich lieber entlang des Grüngürtels, der den Flußlauf säumt, bis zu einer Straßen-Brücke im Landesinneren.
 
Strand bei der Flußmündung bei Armação de Pêra
Extrem laute Musik durchschallt das Nirgendwo. Auf einem Sandplatz neben der Straße parken jede Menge Kleintransporter und Pkw. Fröhliche Frauen in schönen Kleidern tanzen zur Musik. Dazwischen hocken Männer im Schatten, trinken und grillen. So verbringt scheinbar der Portugiese seinen Sonntag. Ich hingegen trotte unter der glühenden Sonne weiter. Nach der Flußüberquerung kann ich jetzt durch das Feuchtgebiet wieder Richtung Meer laufen. Und feucht ist es wirklich, denn ein Regenschauer hat den staubigen Boden in der letzten Nacht durchweicht. Somit wandeln sich meine Schuhe innerhalb weniger Schritte zu schweren Schlammklumpen. Das dick verklebte Profil bietet absolut keinen Halt mehr. Als Schlittschuhläufer trete ich den Rückweg an.

*Foto By Bruno Carlos [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) or CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons