Mittwoch, 31. August 2016

Running Loughborough

Die Universität in Loughborough genießt einen ausgezeichneten Ruf, sowohl für ihre technische als auch sportliche Ausbildung. Paula Radcliffe hat hier studiert. Ich habe also läuferisch-historischen Boden unter den Füßen, als mich mein nachdienstlicher Lauf abends zufällig über den Campus führt.

Loughborough University Campus
Sportliches Gewimmel in der Stadt. Vor einem Sportstudio flippen knackige, junge Frauen in engen Höschen und knappen Bustiers einen riesigen Traktorreifen über den Hof. Aus dem Stadion gellen Schreie und Pfiffe. Die vielen Läufer in den Straßen sind den Passanten keinen Seitenblick wert.

War Memorial im Queen's Park in Form eines Glockenturms
Natürlich gibt es auch Radler und eigens für sie hervorragend beschilderte Radrouten. Diesen Wegen vertraue ich mich an und entdecke, dass sie abseits der Straßen durch's Grüne verlaufen. Perfekt! Da können sich deutsche Orte, die sich mit dem Attribut "Fahrradfreundliche Stadt" schmücken, noch einiges abgucken.

Glockenform im Queen's Park
Zu gucken bekomme ich auch so manches. Im Queen's Park (wie soll er auch sonst heißen) steht eine rostige Glockenform herum. Darin wurde 1880 die größte Glocke Englands gegossen, und zwar für die St. Paul's Cathedral in London. Es dauerte ein Jahr, um das nötige Geld zu sammeln, acht Stunden, um das Material einzuschmelzen, vier Minuten, um die Glocke zu gießen und sechs Tage, bis die Glocke abgekühlt war. Danach lieferte das 17 Tonnen schwere Ding den gewünschten E-Ton, musste aber noch nach London verfrachtet werden. Das übernahmen dann zwei Dampf-Zugmaschinen.

Apropos, Dampfmaschine. Eine von James Watt gebaute "Beam Engine" ziert auch noch meinen Weg.

Beam Engine von James Watt, 1850
Meine rotverschmierten Hände weisen mich fortan als Brombeerdieb aus. Ich habe mich an den über einen Bretterzaun hängenden Früchten gütlich getan. Die fruchttragende Gasse ist so eng, dass sie nur von wirklich Verliebten passiert werden sollte. Das suggeriert zumindest der Straßenname: "True Lovers Walk".

"Durch diese hohle Gasse muss er kommen."
Der Ausflug nähert sich seinem Ende, und ich bekomme mächtigen Durst auf ein frisch gezapftes Pils. Das hat nicht nur mit dem schweißtreibenden Sport zu tun. Auf einer Verkehrsinsel stolpere ich fast in eine Bierwerbung. Praktisch die ganze Stadt ist voll davon. Ach was, das ganze Land! Tatsächlich handelt es sich nämlich um die Rückansicht der englischen Entsprechung unseres deutschen Verkehrszeichens 222-20. Den weißen Pfeil auf blauem Grund haben die Ale-trinkenden Barbaren auf der Schildvorderseite mitten in die Blume des Bieres platziert!

Biertulpe oder Verkehrszeichen?

Statt Bier zu trinken und rumzugrölen schleiche ich, eingeschüchtert von der lokalen Beschilderung, ganz leise in mein Hotelbett. Schließlich habe ich morgen auch wieder eine "Verpflichtung".

Psst!

Sonntag, 21. August 2016

Course du Dolmen - Florac

An rund 20 Grad Temperaturunterschied zwischen Tag und Nacht haben wir uns in den letzten Tagen hier in der Schlucht des Tarn schon gewöhnt. Und so schalten der Junior und ich bibbernd die Sitzheizung an, als wir am 14. August bei morgendlichen 11 Grad im knappen Wettkampf-Leibchen zum Start nach Florac fahren.
Tarn-Schlucht
Der "Course du Dolmen" führt auf die Höhen über Florac, wo es von Dolmen und Hinkelsteinen nur so wimmeln soll.  Der Wettkampf über 12,4 km und 400 Höhenmeter wird heute zum 30. Mal ausgetragen. Die 400 Höhenmeter sind laut Höhenprofil zwischen Kilometer Vier und Acht zu erklimmen. Das entspricht, wie der Mathematiker leicht erkennt, einer Steigung von 10 Prozent. Danach geht es bis ins Ziel nur noch bergab.

Für neun Euro Startgebühr erhalten wir neben einem ärmellosen Funktionsshirt mit Dolmen-Aufdruck noch eine Flasche des Mineralwassers "Quézac" aus dem gleichnamigen Nachbarort. Der verdankt wohl seine Benennung, wenn ich das richtig verstanden habe, dem Burgherren, der im Krieg als einziger Mann zu Hause blieb und den Bedürfnissen der heimischen Frauen nachkam - bis er vor Erschöpfung schließlich starb. Daher Quezac, was "schlaffer Sack" bedeuten soll. Heute betreibt die Firma Nestlé hier eine "bottle plant".

Wie ein schlaffer Sack fühle ich mich auch, denn bei diesem Wettkampf vollführe ich meine ersten Laufschritte seit Wochen. Zuerst hatte der Körper vergeblich um Pause gebettelt. Doch irgendwann hat die gequälte Lauferei einfach keinen Spaß mehr gemacht, so dass auch der Kopf einsah, dass der ganze Kerl mal eine Laufpause braucht. Und so hatte ich mir Urlaub vom Laufen genommen.
Wettkampfposter mit Höhenprofil

Insofern sind heute keine Großtaten zu erwarten. Der Gewinner des Vorjahres hatte 49 Minuten gebraucht.  Ich sollte mit einer Durchschnitts-Pace von 4:50 min/km unter einer Stunde bleiben können.

Inzwischen brezelt die Sonne. Die Temperaturen dürften jenseits der 20-Grad-Marke angekommen sein. Im Ziel werden es über 30 Grad sein. Daher fällt mir schon das leichte Auf-und-Ab auf den ersten Kilometern nicht leicht. Die zweite Frau zieht gämsengleich vorbei. Ich versuch es gar nicht erst. Schon bald überholt mich die Dritte. Ihr Laufstil zatopekscher Anmutung führt, wie beim Original, zu hoher Geschwindigkeit. Auch zu schnell für mich. Als sich Dame Nummer Vier an meiner Seite zeigt, kann ich mir endlich den nötigen Arschtritt verpassen. Sie verschwindet wieder im toten Winkel.

Doch bald schon nerven neue Schritte am Heck. Unheimlich laut knallt das stollige Profil zweier Salomon-Trailschuhe auf den Asphalt. Wann immer es geht, weicht ihr Träger neben die Bergstraße aus, um die Noppen zu schonen. Nur 30 Prozent Trail sind für diesen Lauf ausgeschrieben. Bergauf geht es mittlerweile aber trotzdem, und zwar konstant. Konstant bleibt auch der jugendliche Salomon-Jünger an meiner Seite. Er wird später Drittplatzierter der Kategorie "Kadetten". Mit den Altersklassen funktioniert das hier ein wenig anders. Der Franzose kennt zum Beispiel noch Junioren, Senioren und Veteranen, wie mich, sowie die noch älteren Masters.

Da geht es hoch
Wieder werde ich von einem Läufer überholt. Doch diesmal ist es kein bergerfahrener Einheimischer. Das Shirt weist seinen Träger als Niederländer aus. Wie bitter ist das denn, wenn einen hier sogar die Flachländer überholen?

"Ravitaillement 100 m", heißt es auf einem Schild. Französisch müsste man können! Liest sich irgendwie wie "Revitalisierung". In 100 Metern muss ich hoffentlich noch nicht wiederbelebt werden. Was dann folgt, ist auch kein Rot-Kreuz-Zelt, sondern ein Verpflegungspunkt. Da ich zum Trinken nicht stehen bleibe, kann ich den Kadetten abschütteln. Dass ich bei diesem Lauf zu keinem Zeitpunkt stehen bleibe oder ins Gehen verfalle, bleibt der einzig positiv zu verbuchende Punkt. Von der herrlichen Aussicht hier oben mal abgesehen. Aber wo sind denn jetzt die Dolmen? Stattdessen weist ein Schild auf die Bergwertung in 500 Metern hin. Naja, der Bergmeister dürfte längst ermittelt sein. Immerhin sind wir jetzt oben.

Der Geher, den ich am Berg mühselig überholt hatte, pfeift von hinten an mir vorbei zu Tale. Ich dachte, ich hätte die Quälerei endlich hinter mir, da überholt mich die vierte Frau! Wenigstens ist es inzwischen eine andere. Ich hänge mich an ihre Fersen. Die Oberschenkel brennen bei jedem Schritt ins Tal. Trotzdem, der Abstand wird größer!

Dann, man kann den Zielbereich im Ort schon hören, laufen wir in den Park ein, der um die "Source du Pecher" angelegt wurde. Schmale, ausgewaschene Pfade und Zwielicht unter den Bäumen bilden einen Kontrast zu dem sonnengefluteten Asphalt, auf dem wir eben noch unterwegs waren. Jeder Schritt erfordert Konzentration. Traillaufen eben. Endlich fängt das an hier Spaß zu machen! Als ich kurz aufblicke, sehe ich die Dame hinter dem Absperrband. Sie muss geradeaus gelaufen sein, anstatt scharf nach links unten abzubiegen. Wieso das Band noch intakt ist, bleibt mir ein Rätsel. Obwohl sie noch vor mir wieder auf die Strecke zurück findet, hat sie das Ereignis wohl so weit durcheinander gebracht, dass sie sich nicht wehrt, als ich die Chance nutze. Der Jubel der Zuschauer beim Zieleinlauf gilt natürlich ihr. Daher weiß ich sie stets in meinem Rücken und kann wenigstens auf den letzten Metern richtig kämpfen.

Für meine selbst auferlegte Stundenvorgabe bin ich dennoch 45 Sekunden zu langsam. Der Veranstalter spendet direkt an der Ziellinie Trost, indem er jedem Finisher eine Flasche Wein in die verschwitzte Hand drückt.

Der Holländer setzt sich zu mir in den Schatten. Endlich mal einer der Englisch spricht! Wie Rotkäppchens Großmutter werden wir im Zielbereich mit Kuchen und Wein versorgt. Es gibt auch Eistee. Der macht seinem Namen alle Ehre, denn er ist wirklich tiefgefroren. Zähflüssig, süß, eiskalt - genau das, was man jetzt braucht!

Laufprämie
Dann taucht auch schon der Junior auf. Er verspricht sich eine Altersklassenplatzierung, vermutlich unter den französischen "Benjamins". Doch als die Ergebnisliste ausgehängt wird, steht er überhaupt nicht drauf! Als wir nachfragen, muss - wie stets - erst mal der Englischkundige gesucht werden. Wie ebenfalls immer, findet sich ein solcher. Wir verstehen, dass mein Sohn zu jung für diesen Lauf ist, und nicht offiziell gewertet werden kann. Bei der Siegerehrung wird er dennoch ausgezeichnet und erhält zusätzlich zu seinem Finisher-Wein (für den er wiederum alt genug ist) ein Paket regionaler Produkte mit Wurst, Schafskäse und geminzter Johannisbeer-Marmelade.

Wir haben heute weder Dolmen gesehen noch Bestleistungen abgeliefert, aber die Startgebühren, die haben wir mehr als wieder rein. Laufen wie Gott in Frankreich!