Dienstag, 26. Mai 2015

Sieg bei der Neander-Rallye über 80 km

Den Pfingstsonntag verbringe ich auf dem Neandersteig. Bei der zweiten Austragung der Neander-Rallye, einem privaten Einladungslauf, starte ich auf der 80-km-Strecke, die mit 2400 Höhenmetern ausgeschrieben ist.

Start-/Zielbereich im Grünen
"Race-Director" Tom Dörner hat sich für die diesjährige Austragung extra ein Haus gekauft, um einen angemessenen Start-/Zielbereich bereitstellen zu können. Die notwendigen Umbauarbeiten hindern ihn nicht daran, mal eben einen Wettkampf über drei Distanzen - 48 km, 80 km und 240 km - auszurichten. Im Gegenteil, die typisch sparsame Möblierung eines in Sanierung befindlichen Gebäudes bietet ausreichenden Platz für die ausschweifende Finisher-Party der Teilnehmer aller Strecken.

Bummsi

 

Doch so weit sind wir noch lange nicht. Um sieben Uhr bringt uns der Hausherr persönlich über die ersten paar Hundert Meter der Strecke, wahrscheinlich um sicherzustellen, dass wir auch wirklich alle loslaufen, und uns nicht sofort über die üppigen Vorräte für die Zielfeierlichkeiten hermachen. Danach finde ich mich in bekanntem Gebiet wieder. Vor zwei Jahren hatte ich bei Gemeinschaftsläufen die erste Streckenschleife und auch Bummsi kennengelernt. Die Straße namens "Bummsi" passieren wir nach einigen sehr trailigen und steilen Passagen auf einer Mountainbike-Strecke an der Ruhrklippe. Vermutlich haben sich die Anwohner mit dem "Bummsi"-Schild einen Scherz erlaubt, zumindest weiß Google-Maps von dieser Straße noch nichts.

Teilnehmer-Shirt

Die Vorgabe 


Bei diesen profilierten Landschaftsläufen ist die eigene Zielzeit im Vorfeld nicht so leicht abzuschätzen. Die 100 Kilometer beim Thüringen Ultra war ich mit einer Pace von 7:10 gelaufen. Der Lauf hatte gut 100 Höhenmeter weniger, war also nicht ganz so steil, dafür länger. Irgendwie scheint mir das eine Referenz zu sein. Daher nehme ich mir heute eine 7er Pace vor, was einer Zielzeit von 9 Stunden 20 Minuten entspricht. Da kann man im Flachen einen ruhigen 6er Schnitt laufen, die Berge und die Distanz sorgen dann schon für den Rest. Selbst Spitzenläufer können nach 50 Kilometern die Geschwindigkeit nicht mehr halten. (siehe auch [1])

Mit dieser Strategie finde ich mich schon nach dem ersten Kilometer im Spitzenfeld wieder. Da sind die echten Cracks heute wohl nicht gekommen! Ursprünglich hatten 23 Läufer für den 80er gemeldet. Mit mir unterwegs sind jetzt nur weitere 16 Teilnehmer. Eine der Damen lobt meinen Laufstil: "Das sieht aber locker aus!" Statt mich artig für das Kompliment zu bedanken, bin ich gedanklich bereits ein paar Stunden weiter und antworte: "Noch." Angesichts der Streckenlänge braucht es nicht viel Weissagungskraft für diese Prognose.

Teilnehmer-Armband statt Medaille
Bis zur ersten Getränkestelle hat sich ein Führungsteam von fünf Männern gebildet. Wir liegen mit einer Pace von 6:22 sehr gut im Plan. An den Verpflegungsstellen will ich nicht viel Zeit verlieren. So schnell kann man ja gar nicht laufen, um die dort verlorenen Minuten wieder einzuholen. Diese Lektion habe ich bei meinem ersten 24-Stundenlauf gelernt. Damals hatte ich mich in der Nacht ins Zelt gelegt. Und obwohl ich die restliche Zeit lief, konnte ich einen Mitstreiter, der nachts und am zweiten Tag ausschließlich ging, nicht mehr einholen.

Ich ziehe also nach ein paar Schlucken weiter. Der umfangreiche Inhalt meines Rucksacks macht mich mit eineinhalb Litern Wasser, einem Liter Iso und jeder Menge Gels und Riegeln einigermaßen autark. Die anderen verweilen etwas länger, holen aber bald wieder auf. Jetzt übernimmt Christoph die Führung, was mich mental entlasten könnte. Leider behält er das Einhol-Tempo bei, so dass die Pace meiner Uhr auf 6:19 sinkt. Hoffentlich laufen wir uns nicht jetzt schon kaputt!

Irrwege


Die Strecke ist nicht markiert und wird nach GPS-Track gelaufen. Dadurch biegen wir zwischendurch immer mal wieder kurz falsch ab und müssen umkehren, wodurch sich das Feld neu durchmischt. Bis auf Abbiege-Tipps kommt in unserem Trupp kein Gespräch zustande. Wir sind weniger als Gruppe, eher als Reihe unterwegs. Letztlich finde ich mich an deren Spitze wieder. Das bewirkt ambivalente Emotionen. Unbestritten ist es ein erhabenes, und für mich recht unbekanntes Gefühl, als Erster ein Rennen anzuführen. Andererseits möchte ich nicht als Tempomacher für die ersten zwei Drittel herhalten. Denn entscheidend werden erst die letzten Kilometer sein. Vorher kann man keine seriöse Prognose über den Ausgang des Rennens wagen. Das habe ich ja bei der Tortura erlebt, wenn es dort auch zu meinen Gunsten ausging.

Den Verpflegungspunkt bei Kilometer 29 verlasse ich nach drei Bechern und etwas Banane, während sich meine Begleiter länger an den aufgefahrenen Köstlichkeiten (ich sah sogar Erdbeerkuchen) laben. Als ich mich nun allein auf der Strecke wiederfinde, nimmt ein Lorbeerkranz vor meinem geistigen Auge Gestalt an. Ich will hier heute gewinnen!

Allein auf weiter Flur


Nun folgen die schönsten Stunden dieses Laufes. Noch ist es früher Vormittag, und kein Mensch unterwegs. Ich bin allein mit dieser herrlichen Natur! Die Gegend ist mir völlig unbekannt. Sie geizt aber nicht mit Liebreiz, um mich von ihr einzunehmen. Immer wieder sind weite Blicke in die Landschaft möglich. Nun fehlt nur noch das Preisen der hellen Sonne am strahlend blauen Himmel. Doch ich lobe deren Abwesenheit! Laut Prognose sollte es ein sonniger warmer Tag werden. Bisher bedeckt aber dankenswerterweise eine ziemlich dichte Wolkenschicht den Himmel, so dass ich erst nach 35 Kilometern die Ärmlinge runterrolle.

Der am Vorabend gebastelte Wegweiser

Familienzusammenführung


Und ich habe noch mehr Grund zur Freude. Am Vortag hat sich meine Familie spontan entschlossen, bei Kilometer 40 einen Verpflegungspunkt mit Wasser, Cola, alkoholfreiem Weizen, Bananen, Salzbrezeln, Studentenfutter und Gels einzurichten. Mit diesem Lückenschluss stehen auf der gesamten Strecke aller 10 Kilometer Verpflegungsstellen bereit. Dem Pulsmesser-VP laufe ich jetzt mit einer 6:25er Pace als nächstem Zwischenziel froh entgegen. "Du siehst ja noch frisch aus!", werde ich begrüßt. "Ich fühle mich auch gut.", kann ich glücklicherweise antworten. Erquickt an Leib und Seele ziehe ich bananenbestückt weiter.

Außerdem hat mir meine Frau noch zwei Ersatzbatterien für den GPS-Receiver zugesteckt. Schon nach fünf Kilometern war die Ladestandsanzeige von vier auf zwei Balken gesprungen, nachdem ich das Display eine Stufe heller gestellt hatte. Nach einer Panik-Attacke und anschließender Korrektur der Einstellung hatte ich einen Batterie-Notruf abgesetzt, der zum Glück erhört wurde.
Pulsmesser-VP bei km 40

Krämpfe kündigen sich an


Ansonsten bin ich diesmal aber gut vorbereitet. Ich habe erstmals im Vorfeld einer Veranstaltung das Höhenprofil vernünftig studiert und weiß, dass der schlimmste Anstieg bei Kilometer 55 beginnt und sich ungefähr fünf Kilometer hinziehen wird. Es heisst also, mit den Kräften zu haushalten. Doch das Laufen fällt mir zunehmend schwerer. Überdies kündigt sich beim Gehen am Berg ein Krampfen in der rechten Wade an. Muss ich eben laufen, statt zu gehen. Auf Dauer ist das leider keine Lösung. Und dann führt mich auch noch das Navi in Versuchung. Während ich mich ein Bachtal hinaufquäle, sehe ich, dass ich oben an einem Stausee den Bach überqueren muss, nur um auf der anderen Seite wieder hinabzurennen. Und es gibt da diesen Weg, der die ganze Schleife abschneiden würde. Soll ich nicht einfach abkürzen? Mist, ich will hier ehrlich ins Ziel kommen. Also weiter aufwärts. Fünf Minuten später sehe ich die Abkürzung von der anderen Seite.

Die zwackende Wade heilt Detlef am 51er Verpflegungspunkt. Er sucht für mich in den Tiefen seinen Wohnmobils nach Salz und findet einen harten Klumpen, den er mit dem Messer zerteilt, damit ich das Weiße Gold meinem demineralisierten Körper zuführen kann. Wieder eine Lektion gelernt - beim nächsten Ultra nehme ich Salz mit.

Nach etwa sechs Stunden erreiche ich den Fußpunkt des langen Aufstiegs bei Kilometer 55. Mittlerweile sind die Beine schwer, die Pace liegt schon bei 6:30. Ich quäle mich hinauf. Die Oberschenkel wollen die Beine nicht mehr heben. Muss ich künftig mehr Beinkrafttraining machen? Langsam wird es richtig schwer. Und nun scheint auch noch die Sonne! Immer wieder zoome ich die Kartenansicht größer. Der elende Verpflegungspunkt mus doch mal zu sehen sein!

Kraft getankt


Irgendwann bin ich endlich an der ersehnten Landstraße. Ab jetzt laufe ich auf bekannter Strecke. An dem großen Verpflegungspunkt bei Kilometer 29/63 begrüßt mich ein größeres Trüppchen. Ich bin ein wenig im Tunnel und erkenne nur Oliver Witzke, der mir zuruft: "Und das Lächeln nicht vergessen!" Ich schaffe es, der Aufforderung nachzukommen und verwirre die anderen mit dem Ausruf "Eins Eins Fünf!" Fragende Gesichter. "Das ist meine Startnummer. Hundertfünfzehn!" Trotz dieser Zusatzerklärung wird mein Einchecken wohl nicht registriert, wie ich am nächsten Verpflegungsstand erfahren werde.

"Mensch, du schwitzt ja gar nicht! Und deine Haare sitzen wie frisch geföhnt."
"Ich habe mich vor der Kurve frisch gemacht, weil ich mir dachte, dass ihr fotografiert.", witzele ich zurück.
Als Oliver findet, dass ich nun genug Pause gemacht hätte, breche ich tatsächlich auf. Dem Ziel entgegen!

Der Zwischenstopp hat einen Schalter in mir umgelegt. "Keine zwanzig Kilometer mehr!" Plötzlich sind die Oberschenkel wieder fit. Es läuft! Auch wenn die Gesamt-Pace nun bei 6:45 herumdümpelt. Dirk ist noch etwas fitter. Als Dritter der 48-km-Strecke holt er mich ein. Wir sind ein ganzes Stück gemeinsam unterwegs, bis ihn Krämpfe zur Tempo-Reduktion zwingen. Die entgegenkommenden 48-km-Läufer applaudieren mir und rufen mir zu, ich sei Dritter. In Gedanken korrigiere ich diese Aussage euphorisch: "Wenn ihr wüsstet! Ich bin Erster!" Was für ein Tag! Wie war das nochmal mit dem blinden Huhn?

Der Wille bricht


Um Überraschungen am Wettkampftag zu vermeiden, wird empfohlen, vorab auf dem Endstück der Strecke zu laufen. (siehe auch [2]) Tatsächlich hatte ich mich eines Sonntags von der Pulsmesserin in Velbert aussetzen lassen, um von dort auf dem Steig Richtung Essen-Kettwig zu laufen. Ein paar Wegmarken erkenne ich durchaus wieder. Darunter auch den Teich der Abtsküche, wo der 72-km-Verpflegungspunkt steht. Meine Uhr zeigt allerdings schon 74 Kilometer an. Nach der Angabe der Uhr würde sich ein Versuch lohnen, unter neun Stunden zu bleiben. Wenn ich aber erst bei 72 bin, hat es keinen Sinn. Als ich höre, dass ich die 51er Verpflegung 35 Minuten vor dem Verfolger-Duo passiert habe, bricht mir der Kampfeswille. Der Sieg scheint mir sicher, und so wandere ich den nächsten Anstieg gemütlich hinauf, gönne mir am Gipfel sogar noch ein Pinkelpäuschen.

Der Rest zieht sich. Es ist doch jedes Mal erstaunlich, wieviel Zeit man auf den letzten Kilometern noch verbraten kann. Wieder versuche ich mit wildem Zoomen, das Ziel näher zu holen. Endlich tauchen Schilder mit dem ersehnten Schriftzug auf: "Ziel"! Ein letzter Trail. Nochmal Gas geben. Das Wohngebiet! Nach 9 Stunden und 8 Minuten stehe ich wieder am Ausgangspunkt. Mit einer letztendlichen Pace von 6:51 habe ich meine Vorgabe unterboten und lasse mir dankbar ein Siegerbier reichen.

Regionale Schiefertafel mit Wanderwegzeichen als Trophäe

[1] Werner Sonntag, Mehr als Marathon, Sportweltverlag, 2013
[2] Herbert Steffny, Das große Laufbuch, Südwest-Verlag, 2006

Montag, 18. Mai 2015

Vorpfingstliches Rum-Tapern


Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen: Es grünten und blühten
Feld und Wald; auf Hügeln und Höhn, in Büschen und Hecken
Übten ein fröhliches Lied die neu ermunterten Vögel;
Jede Wiese sprosste von Blumen in duftenden Gründen,
Festlich heiter glänzte der Himmel und farbig die Erde. 
(Goethe: Reineke Fuchs)

Tapfer tapere ich dem Pfingstfest entgegen. Spricht man das Tapern deutsch aus, so bekommt man eine Ahnung von meinem Schlurfschritt. Der ist jetzt nämlich angesagt, denn gemäß der englischen Aussprache-Variante reduziere ich momentan die Trainingsintensität, um genau zu Pfingsten fit zu sein für die 80 Kilometer auf dem Neanderlandsteig, die ich im Rahmen der Neander-Rallye zu absolvieren gedenke.

Auf einen Doppeldecker mit samstäglichen 34 Kilometern und 40 Kilometern am Sonntag folgte am 13.5.2015 ein verlegter Kölner Nachtlauf. Gebucht war ein Start um 21:15 Uhr als familiäres Triple beim „Galeria Kaufhof Nachtlauf“ – quasi als Kölner Dreigestirn. Da hätte ich die Pulsmesserin gerne zu einer Bestzeit geleitet. Doch die Strecke, in deren Verlauf Wartezeiten an engen Treppen einzuplanen waren, lässt dies nicht zu. So beschloss der Familienrat angesichts der verstopften Autobahnen ganz spontan, dass bei dem schönen Wetter gemeinsames Joggen im Dreier-Team besser in heimischen Gefilden durchzuführen sei. Und so wurde der Nachtlauf kurzerhand örtlich und zeitlich verlegt. Immerhin gewandeten wir uns dabei in unsere Team-Shirts!
 
Kölner Nachtlauf - verlegt
Der letzte längere Lauf über 25 Kilometer wurde am vergangenen Wochenende durch eine 18-km-Wanderung ergänzt. Was man sonst mal eben vorm Frühstück abreißt, gerät im Wanderschritt zum Ganztagesprogramm. Unglaublich, wieviel man da unterwegs rasten und picknicken muss!

Nun richtet sich der Blick auf Pfingsten. Ein „liebliches Fest“ steht mir wohl weder mit der diesjährigen Teilnahme an der Neander-Rallye noch im nächsten Jahr bevor. Denn kürzlich erhielt ich eine Einladung bereits für Pfingsten 2016 - zur „TorTour de Ruhr“! Sind dieses Jahr noch 80 Kilometer genug, so muss es in einem Jahr das Doppelte sein. Der TorTourist neigt aber zur Verharmlosung - vermutlich eine Strategie der Streckenbewältigung. Die 100-Kilometer-Distanz nennt er „Bambinilauf“. Und die „Ruhr Hundred“, für die ich eingeladen bin, sind in Meilen gerechnet. Da habe ich jetzt also ein Trainingsziel.

In diesem Sinne, frohe Pfingsten!