Mittwoch, 2. November 2016

Strahlen beim Röntgenlauf

Ein Sonnenaufgang wie aus dem Bilderbuch! Die wenigen Dunstfetzen am Himmel sind in das rötliche Morgenlicht getaucht. Von den Bäumen leuchtet Blattgold, und zwischen den Hügeln hängt noch Nebel im Tal. So präsentiert sich das Bergische Land bei der Anfahrt zum 63,3 Kilometer langen Röntgenlauf.

Widersprüchliche Pläne


Am Start wärmen die Strahlen der Sonne bereits. Und auch so manches Gesicht strahlt voller Vorfreude. Meins ist ganz klar dabei. So ein phantastisches Wetter hatte ich noch bei keinem Start hier. Ich nehme mir vor, den Tag in der Natur zu genießen. Dummerweise habe ich mir noch mehr vorgenommen. Ich will heute nämlich mindestens Bestzeit (also unter 6:22), aber eigentlich sogar unter sechs Stunden laufen. Der Widerspruch fällt mir nicht auf. Noch nicht.

Dixies im Morgenlicht

Nachdem ich den letztjährigen Jubiläums-Röntgenlauf über 100 Kilometer in 10:27 beendet hatte, war ich zu der vermessenen Einschätzung gelangt, die 63 Kilometer in sechs Stunden bewältigen zu können. Ich müsste also mit einem 5:40er Schnitt ins Ziel laufen. Nur, so einfach ist das ja nicht, wenn die Strecke profiliert ist. Es gilt, auf flachen oder abfallenden Passagen den Zeitverlust an den Anstiegen rauszulaufen. Außerdem ist davon auszugehen, dass die Pace gegen Ende wohl etwas einbricht.

Lauffreude


Also laufe ich gutgelaunt munter drauflos. Es pendelt sich ein 5er Schnitt ein. Viel zu schnell, fühlt sich aber gut an. "Da lauf´ ich ein schönes Polster raus!" Sonst runzle ich weise die Stirn, wenn ich solche Formulierungen höre oder lese. Mir lasse ich den Blödsinn heute jedoch durchgehen. Noch freue ich mich am blauen Himmel und dem bunten Laub.

Nach knapp 1:45 ruft der Moderator beim Halbmarathonziel: "'Pulsmesser', mein Lieber, jetzt hast du nur noch einen Marathon vor dir! Und könnte man seinen Sonntag schöner verbringen als hier beim Röntgenlauf im Bergischen Land?" Ich jubele den nächsten Anstieg hoch. Der Lauf ist die pure Freude.

Virtuelle Fotos


Das Wetter sorgt für geniale Fotomotive. Nur habe ich wegen des selbstauferlegten Zeitziels keine Muße zum Knippsen. So mache ich ein paar virtuelle Kopf-Fotos. "Rostlaub" nenne ich das Foto unter der Müngstener Brücke, deren oxidierte Träger farblich mit den sonnenbeschienenen Bäumen am anderen Ufer korrespondieren. Auch der "Elefantenmensch" wird innerlich abgelichtet. Aus unerfindlichen Gründen hat sich einer der Zuschauer einen riesigen Plüsch-Elefantenkopf über seinen eigenen Schädel gestülpt.
Startaufstellung Röntgenlauf 2016

Später stosse ich auf die führende Marathonfrau, die scheinbar in 3:30 finishen will. Jedenfalls sind wir längere Zeit im gleichen Bereich unterwegs, bis sie irgendwann zurückfällt. Und auch ich beginne Federn zu lassen. Sah es bei der halben Distanz noch nach einem theoretischen Finish in fünf Stunden vierzig aus, so wird es ab Kilometer 37 ziemlich schwer. Für den zweiten Halbmarathon brauche ich dann schon fast zwei Stunden. Es bleiben also noch zwei Stunden und 15 Minuten für den dritten und letzten Halbmarathon. Klingt machbar, wird aber schwer werden.

Und dann musst du halt zu Ende laufen


"Da habe ich mich vom Bestzeitenzwang auf der Marathonstrecke frei gemacht. Und nun fange ich den Quatsch beim Ultra an!", hadere ich mit meiner Vorgabe. Andererseits hilft so ein Ziel doch ungemein, um sich immer wieder am Riemen zu reißen.

Mein Riemen ist aber runter. Die hinteren Oberschenkel schmerzen bis ins Gesäß. Muss wohl zu wenig Beinkrafttraining gewesen sein. Am VP bei etwa Kilometer 47 muss ich gehen! Während dieser rund 100 Geh-Meter esse ich genüsslich einen dieser köstlichen Müsliriegel der Sponsoren-Bäckerei. Und in dieser Erholungsphase dringt die Erkenntnis zu mir durch: das ist jetzt nur eine Krise, die geht wieder vorbei! Allein schon diese Einsicht bringt den Durchbruch. Ich trabe wieder an. Michiel, der schweizer Ironman, der heute seinen ersten Ultra läuft, und mich ein Stück begleitet (bevor er am Horizont entschwindet), wird es im Ziel so zusammenfassen: "Bis Marathon war es gut. Und dann musst du halt zu Ende laufen."

Die sechs Stunden sind weg


Mit dem Genuss ist es jetzt also definitiv vorbei. Die Reserve auf die sechs Stunden wird knapper und knapper. Ich mag gar nicht mehr auf die Uhr schauen. Die Pace steigt unaufhörlich. 5:30, 5:35, 5:37. Und dann das Unvermeidliche: 5:40, 5:41, 5:42. Die sechs Stunden sind weg!

Ich tröste mich eine Weile mit der neuen Bestzeit. Dann fällt mir ein, dass mich beim Wupperbergemarathon die GPS-Messung genarrt und mir eine zu langsame Geschwindigkeit vorgegaukelt hatte. Und auch hier habe ich an den Kilometer-Markierungen jeweils eine etwas geringere Strecke auf der Uhr. Ich schöpfe neuen Mut.

Licht und Schatten beim Röntgenlauf
Das 60-Kilometer-Schild bringt nach etwas Kopfrechenarbeit die Gewissheit. "Es klappt! Es klappt!", wird zu meinem Mantra, mit dem ich mich vorantreibe. Dass mich einen Kilometer vorm Ziel noch die führende Frau überholt, muss ich hinnehmen. Ich will heute ja nicht Siegerin werden, ich will die sechs Stunden knacken! Zum Glück kenne ich den Rest der Strecke und freue mich paradoxerweise auf den letzten Anstieg. Einfach, weil er definitiv der letzte ist, und unmittelbar danach (jedenfalls relativ zur Gesamtdistanz) das Ziel liegt.

Tja, und dann bin ich drin. 5:57:08. Kein Freudentaumel, kein Endorphinrausch, keine Tränen. Aufgabe erfüllt. Erledigt!

Erst beim Gang zur Sporthalle kommt das Glück zu mir. "Grus, grus", ertönt der typische Ruf. Zwei Kranich-Schwärme kreisen am blauen Himmel. Die Vögel des Glücks. Den Kopf im Nacken bleibe ich stehen, bis mir kalt wird.


10 Kommentare:

  1. Klasse gemacht. Auch wenn Zeiten auf diesen Distanzen wohl nur ganz schwer planbar sind!

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    1. Die auf dem ersten HM rausgelaufenen 15 min habe ich auf dem letzten HM wieder zugebuttert. Möglicherweise hätte ein langsamerer erster HM nicht zu einem besseren Ergebnis, wohl aber zu weniger Quälerei ab Marathon geführt.

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  2. Also wenn du Langeweile hast. Im November gibt es noch den 53km Ultratrail in Luxemburg :-)
    Irgendwann möchte ich auch mal so weit laufen. Nicht so wahnsinnig schnell wie du, aber so weit.
    Herzlichen Glückwunsch und viele Grüße
    Karina

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    1. Danke für den Tipp und die Glückwünsche! Meine ToDo-Liste ist lang, gerade jetzt im Herbst gibt es ja viele schöne Veranstaltungen. Ich will aber versuchen, es nicht wieder zu übertreiben. Die Sehnengeschichte vor der TorTour möchte ich nicht wiederholen.

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  3. Pulsmesser at his best! Wow, herzlichste Glückwünsche zur Superzeit! Deinen topografischen und auch mentalen Berg- und Tallauf hast Du wieder wunderbar hier dokumentiert. Das absolut ökologisch unproblematische Röntgenstrahlen sei Dir gegönnt. Ich hoffe, die Freude kam dann doch noch auf?
    Liebe Grüße
    Elke

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    1. Vielen Dank, Elke! Ja, Freude, Zufriedenheit, alles ist da. Nur dieses körperliche Glückserleben, das einen oft im Ziel überkommt, blieb diesmal aus. Muss wohl die Dosis erhöhen ...

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  4. Gratulation zu dem grandiosen Lauf! Und auch zu der Erkenntnis, das du NICHT Siegerin werden willst :-)))
    Das wäre ja auch sehr schwer geworden (und ich meine jetzt nicht die Geschwindigkeit)
    Den Elefantenmenschen habe ich vor Augen ;-)
    Liebe Grüße
    Helge

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    1. Danke, Helge! Ich habe ja Erfahrung als Siegerin, wurde ich doch schon mal von Manfred Steffny als drittplatzierte Frau beim Himmelgeister Halbmarathon aufs Podest gerufen. Ich konnte ihn dann aber durch persönliches Erscheinen überzeugen, dass das ein Versehen sein muss.

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  5. Liest sich, als würdest du den Röntgenlauf wärmstens empfehlen. Ist dem so?

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    1. Es handelt sich um einen hervorragend organisierten Landschaftslauf, bei dem man sich unkompliziert nachmelden kann und dabei noch mit kostenlosen Äpfeln versorgt wird.
      Eine weitere Besonderheit ist die Möglichkeit, sich unterwegs spontan für eine andere (längere oder kürzere) Distanz zu entscheiden und trotzdem gewertet zu werden.
      Also, ja!

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