Montag, 11. Januar 2016

Ein Lauf durch zwei Klimazonen – der Kevelaer Marathon 2016


Männer, die Mund und Nase unter Sturmmasken verbergen, stehen neben leichtbekleideten Herren in Trägerhemd und Shorts. Zwischen diesen beiden Extrema ist die ganze Palette an läuferischer Bekleidungsvielfalt im 433 Starter starken Feld zu bewundern. Und egal was sie tragen, sie alle frieren im eiskalten Ostwind, der am Morgen des 10.1.2016 den Startblock des Kevelaer Marathon durchtost. Der Startschuss ist eine Erlösung.


Auf den ersten drei Kilometern der sieben Mal zu bewältigenden Sechs-Kilometer-Runde bläst mir der schneidend kalte Gegenwind durch die Rippen. Trotz Kappe, Handschuhen, langer Hose und Langarmshirt ist mir bei acht Grad so kalt, dass ich mich frage, ob ich diesen Lauf bis zum Ende durchstehen kann. Ich erwäge, nach der ersten Runde noch etwas zum Überziehen aus der Umkleide zu holen. Schließlich will ich hier keine Bestzeit aufstellen, sondern einen langen Tempolauf im 5:15er Tempo absolvieren.

In der zweiten Rundenhälfte knickt die Streckenführung rechtwinklig ab und verläuft windgeschützt und sonnenbeschienen am Waldrand. Urplötzlich endet das arktischen Klima und weicht tropischen Bedingungen. Ich möchte mir am liebsten Handschuhe, Mütze und lange Ärmel vom Leib reißen. Diesem Wechselspiel der Elemente werde ich für die nächsten Stunden ausgesetzt sein.

Es entsteht der Eindruck, die ganze Ultraszene habe sich ein Stelldichein gegeben, denn es wimmelt im Feld von bekannten Gesichtern. Auch viel Prominenz ist vertreten. Weltmeisterin Cornelia Bullig läuft genauso mit wie die 75-jährige Sigrid Eichner, die nach dem Marathon am Vortag heute ihrer bereits 1950 zählenden Sammlung einen weiteren hinzufügt. Die Senioren durften wohl schon zwei Stunden zeitiger starten, um auch gehend, ja teilweise fast hinkend, bis zum Zielschluss die Distanz zu bewältigen. Mein temporärer Begleiter stellt die Frage, ob diese Fortbewegungsart denn noch etwas mit Marathonlaufen zu tun habe. Aus meiner vergleichsweise jugendlichen Perspektive erlaube ich mir besser kein Urteil. Insgeheim hoffe ich, in dem Alter noch mindestens so aktiv sein zu können.

Es gibt nicht nur angenehme Begegnungen. Auf den ersten Blick erkenne ich einen Läufer, dessen Erscheinung sich vor Jahren beim Düsseldorf Marathon tief in mein Gedächtnis grub, als er sich meinen ewigen Zorn zugezogen hat. Damals schleppte ich mich demoralisiert und vom Hammermann aller Zeitziele beraubt in einer Gruppe dahin. Es war für mich der Auftakt zu einer Serie vergeblicher Bestzeitenversuche, die mir letztlich die Freude am Straßenmarathon genommen und die Tür zum Landschafts- und Ultralaufen geöffnet hat. Unser Trupp wurde damals von ebenjenem Läufer ständig umtänzelt, und wir mussten dabei seinen geistigen Ergüssen lauschen. Weglaufen konnten wir ja nicht. Er hingegen sprang munter voraus, drehte sich rückwärtslaufend zu uns um und ließ uns abschließend wissen: „Hach, jetzt muss ich aber langsam mal einbrechen, sonst bin ich ja viel zu zeitig im Ziel!“ Ob er uns mit voller Absicht quälte oder einfach nur wenig Feingefühl besaß?  Egal, wir werden in diesem Leben keine Freunde mehr.
 
Schlange zur Startnummernausgabe
Eine Startnummer vor der Brust entfaltet ja doch immer eine gewisse Sogwirkung. In meinem Fall ist es heute allerdings ein Schub, denn ich habe das am Nummernband flatternde Papier wegen des Windes auf meine Rückseite verschoben. Und so bin ich von Anfang an schneller als geplant unterwegs. Als mich ein Mitstreiter mit einer 5er Pace überholt, denke ich mir: „Der will bestimmt 3:30 laufen. Jetzt bist du ohnehin zu schnell, da kannst du auch mit ihm laufen.“ Beim Halbmarathon sind wir jedoch eine gute Minute zu langsam für dieses Vorhaben. Da müssen wir wohl etwas beschleunigen. Die Kilometerzeiten liegen jetzt zwischen 4:50 und 5 min.

Immer wenn wir windgeschützt zwischen den Wäldern entlangkommen und der Blick über die Felder und die topfebene Landschaft frei wird, genieße ich den Anblick der Szenerie und die wärmenden Sonnenstrahlen. Jedesmal denke ich, wie wunderbar ich diesen Sonntag verbringe - mit Bewegung an frischer Luft unter stahlblauem Himmel. Nicht jeder scheint mein Wohlgefühl zu teilen. Vor mir beugt sich jemand über den Rinnstein, während der Wind ihm sein Erbrochenes aus dem Gesicht reißt. Ohne sich auch nur den Mund abzuwischen, richtet sich der Mann wieder auf und spurtet uneinholbar von hinnen.


Da ich neulich irgendwo gelesen habe, dass Endbeschleunigung beim Training sehr wichtig sei, um Einbrüche gegen Ende eines Wettkampfes zu vermeiden, plane ich, die letzte Runde als die schnellste zu laufen. Da ich trotzdem nicht im Marathonrenntempo unterwegs bin, nehme ich ernüchtert zur Kenntnis, wie sehr ich doch um die Geschwindigkeit kämpfen muss.

Um zwei Minuten verpasse ich den dritten AK-Platz, als ich nach 3:28:04 einer der 385 Finisher werde. Ein Erdinger später kommt mein Mitläufer ebenfalls noch sub 3:30 ins Ziel (es sind nur 0,33 l Flaschen) und bedankt sich überschwänglich: „Ohne dich hätte ich das nicht geschafft!“


Bei aller Ziel-Euphorie bleibt das schale Gefühl, es mit dem Tempo ein wenig übertrieben zu haben, will ich doch bereits am nächsten Samstag einen „Kleinen Einladungs-Ultra“ laufen.



8 Kommentare:

  1. Kevelaer - das verbinde ich mit Weihwasser, Rosenkranz und Heiligenfiguren. Vielleicht gibt es deshalb dort solche Aktiv-Senioren? Aus jugendlicher Sicht mag man das nicht mehr Marathon nennen wollen, aber als sich dieser AK langsam nähernder Mensch sehe ich wie da da den Positiveffekt sportlichen Tuns überwiegen.
    Tja, der Sog ... kommt mir bekannt vor. Ist aber auch verhext, nun musstest Du schon wieder eine sub-3:30 hinnehmen ;-) Gratulation, zumal bei diesen Temperaturbedingungen!
    Und was wurde aus dem tänzelnden Waldschrat? Konntest Du Rache nehmen?
    Liebe Grüße
    Elke

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Unter den Ultras ist gehen ja kein Tabu. Und irgendwann werden die Gehphasen eben immer länger. Vermutlich ist die Schwelle zu 100% Gehen dann gar nicht mehr so hoch. Ich freu mich ja über jeden, der sich an der frischen Luft bewegt - selbst wenn er dabei Nordic-Walking-Stöcke trägt.

      Mir hat es als Satisfaktion zunächst genügt, den Tänzer hinter mir zu wissen.

      Danke, Elke, und viele Grüße!

      Löschen
  2. Das Jahr fängt ja gleich wieder gut an bei dir. So ne Endbeschleunigung muss man erstmal hinbekommen!
    Wäre aktuell nicht meines, aber ich habe auch noch etwas Zeit zu üben, trainieren und lernen :)

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Das Schöne an der Ultralauferei ist für mich, dass man nicht hündisch einem Trainingsplan folgen muss, und sich auch mal so eine Unvernunft erlauben kann. (Hoffe ich jedenfalls!)

      Löschen
  3. Da hat man grad die ersten paar Tage rum vom Jahr und der Pulsmesser rennt schon wieder wie der Weltmeister durch die Gegend :-)
    Na zum Glück haste den "Tänzer" hinter dir gelassen, dann weißte schon wo es lang geht dieses Jahr.
    Hinter dir lassen, ALLE hinter dir lassen ;-)
    Ich wünsche dir gutes Gelingen und frische Beine beim Ultra

    AntwortenLöschen
  4. 385 Finisher? Ich gratuliere den Erfolg!

    AntwortenLöschen