Montag, 7. Mai 2018

WHEW – 67 Hundertstel



Als ich zu Hause die ungewöhnliche Kunde verbreite, einen Lauf verkürzen zu wollen, wird aus langmütiger Toleranz sofort aktive Unterstützung: "Wo willst du wann abgeholt werden?" "Um 13:45 Uhr in Hattingen an der Ruhr, bitte!" Zwei Wochen vor dem TorTourdeRuhr-Hundertmeiler erscheinen mir 100 Laufkilometer im Rahmen des WHEW als eine zu hohe orthopädische Belastung für meine geschundenen Achillessehnen.

Wochenlang habe ich mit mir gehadert. Soll ich die vollen 100 km laufen oder nicht? Besonders mein Sohn gab immer wieder zu bedenken, dass ich dann weder Medaille noch Urkunde erhalten werde und darüber hinaus noch ein DNF¹ in der Ergebnisliste stehen wird. Ja, verdammt! Stochert doch alle noch in der Wunde herum! Letztlich gibt das Befinden nach den 100 km „Rund um Solingen“ den Ausschlag. Zu lange brauchte ich, um die Achillesschmerzen wieder in den Griff zu bekommen. Und Guide Claudi meinte: „50 würde ich zwei Wochen vorher noch laufen, vielleicht auch noch 70. Aber keinesfalls mehr!“ Das Herz will etwas anderes. Der Verstand beschließt, auf die erfahrene Expertin zu hören. 

Laufen im Tunnel
Nach mehr als 70 km ist man praktisch schon fast im Ziel. Da steigt man nicht mehr aus. Also muss es irgendwo zwischen 50 und 70 km sein. Als ich sehe, dass es bei 67,5 km nicht nur einen VP gibt, sondern auch noch einen sonnigen Biergarten, wo meine Frau eine eventuelle Wartezeit komfortabel überbrücken kann, ist der Ausstiegspunkt festgelegt. Nervigerweise muss ich mich ab jetzt bei jedem rechtfertigen, der von meinem geplanten Exit erfährt. Vor allem immer wieder auch vor mir selbst.

Am herrlich sonnigen Startmorgen lehrt mich der Moderator, dass der WHEW, gar nicht „Weh-Hah-Eh-Weh“, sondern englisch „Wjuh“ genannt wird. Auch sonst erfahre ich Interessantes. Sandra berichtet auf dem ersten Teilsegment von ihrer 170-km-JUNUT-Erfahrung, wo sie nachts Temperaturen von minus Vier und am Tage von 25 Grad zu trotzen hatte. Und bei ihrer Teilnahme an der Weltmeisterschaft im 24-Stundenlauf fiel die elektronische Rundenmessung aus! Raimund erzählt, wie er Opfer einer Internetbetrügerei wurde. Der ebay-Käufer hatte ihm gefälschte Überweisungsnachweise untergejubelt, die versandte Ware tatsächlich nie bezahlt.

Sound-Bike
Und schon ist der höchste Punkt der Strecke erreicht. Für mich geht es nun nur noch bergab (rein geografisch gesehen!), da ich ja rechtzeitig vor dem fiesen, 14 km langen Gegenanstieg das Rennen verlassen werde. Ich habe mir vorgenommen, nicht schneller als im 6er Schnitt zu laufen. Und ich halte mich diesmal sogar an meine Strategie! Beim 25-km-VP will ich die erste Nahrungsaufnahme zelebrieren und verliere etwas Zeit, da eine Radbegleiterin mit ihrem Vehikel zum Tisch längsseits gegangen ist, um sich einen Kaffee ausschenken zu lassen. Dadurch ist zunächst für alle anderen das Büfett blockiert.

Ab jetzt begleitet mich ein Run&Bike-Duo, das sich auf einen Triathlon in Norwegen vorbereitet. Wie bei der TorTourdeRuhr handelt es sich um einen Wettkampf, bei dem ein Team im Begleitfahrzeug die Versorgung sicherstellen muss. Apropos Versorgung: die Talsohle, also die Ruhr, ist in Kettwig erreicht. Und dort am VP bei km 40 wird - unter vielem anderen - Mischbrot mit Knoblauchfrischkäse angeboten. Sehr, sehr lecker! Das kommt auf den Speiseplan für die Tortour!

Ständig werden wir Läufer von den Sound-Bikes umschwirrt. Das sind Lastenräder mit mobilen Lautsprechern, die mit lässiger Musik für Stimmung auf der zwar asphaltierten, aber sehr naturnahen Strecke sorgen. Dieser Lauf ist so Klasse! Ich beschließe zwei Dinge. Nächstes Jahr bin ich wieder dabei. Und wenn es irgendwann mit dem Laufen hapern sollte, werde ich Sound-Bike-Fahrer!

Von hinten sind schnelle Schritte zu hören. Gundi schließt mit den Worten zu mir auf: „Du läufst so schön gleichmäßig. Da komme ich mit. Am Baldeneysee holen wir ein Läufer-Duo ein, das von seinem Coach begleitet wird. Als der Coach realisiert, dass wir am „WHEW 100“ teilnehmen, würde er sich gern anschließen, um den Plausch fortzusetzen. Aber dem Duo ist eine 6er Pace zu schnell. Punktgenau erreichen wir die 50-km-Marke nach 4:59. Trotz kurz gehaltener Verpflegungspause sehen wir das gecoachte Doppel nun weit vor uns. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie Pausen die Durchschnittsgeschwindigkeit drücken!

Kunst am Strom
Der 50-km-Punkt stellt eine magische Grenze dar. Denn ab jetzt überholen wir ständig. Die hohen Mittagstemperaturen und der beständig kräftige Gegenwind fordern ihren Tribut. Auch Gundi, die am Folgetag noch den Marathon in Mainz finishen möchte, nimmt nach 55 km Tempo heraus. Da mein Kopf ja nur bis 67 denken muss, fühle ich mich derartig frisch, dass ich dauernd gegen die Versuchung ankämpfen muss, zum Telefon zu greifen, um meine Frau ins Ziel umzubestellen. Ich bilde mir ein, dass mich meine Vernunft davon zurückhält. In Wahrheit ist es wahrscheinlich die Furcht vor dem gewaltigen Donnerwetter aus dem Hörer.

An der Ruhr hole ich dann doch mal das Handy zum Knipsen heraus, was einen Radfahrer seiner Begleitung zurufen lässt: "Der macht sogar noch Pictures!" Unter den vielen Leinpfad-Pedalisten ist auch Vigli, die ihr 100-km-Ruhr-Erlebnis zu einem Buch verarbeitet hat. Sie hält extra für mich an, um die Hände zum Applaudieren frei zu haben. Danke!

Nach 60 Kilometern überhole ich immer mehr Geher. Und auch ich habe zunehmend Mühe, die 6er Pace zu halten. Insgeheim zähle ich die letzten 7 Kilometer runter. Gerade als es anfängt, zäh zu werden, finde ich mich plötzlich im Schlaraffenland wieder!

Normalerweise nimmt man am VP ein paar Schlucke und Bissen, um dann weiterzuhasten. Doch für mich ist hier der inoffizielle Zielbereich. Und was ist da nicht alles aufgetafelt! Nur eine kleine Auswahl sei genannt. Melone, Ananas und Orangen runden das übliche Obstangebot ab. Es gibt zwei Sorten Kuchen und „Vegetarische Hackfleischbällchen“. Grießbrei und Milchreis sind wohlfeil und können noch mit Apfelmus garniert werden, wovon ich reichlich Gebrauch mache. Als ich mein Schüsselchen auslöffle, kommt der nächste Läufer und fragt: „Du bist wohl schon beim Nachtisch?

An der Ruhr - Die Einsamkeit des Langstreckenläufers
Gerade rechtzeitig, bevor der Lauf richtig anstrengend geworden wäre, beende ich den letzten langen, vorpfingstlichen Trainingslauf. In die Erleichterung mischt sich Trauer. Es ist wirklich schade, denn dieser Longrun hat bis hierher nur Freude bereitet. Aber man soll ja gehen, wenn es am schönsten ist. Zumindest werde ich mir im Falle eines TorTour-Fiaskos nicht den Vorwurf machen müssen, es heute übertrieben zu haben.


¹DNF ... Did Not Finish


10 Kommentare:

  1. Glückwunsch zu so einem entspannten Lauf. Und das überwiegt. Und nicht das geplante DNF!

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  2. Eindeutig richtig gemacht. Was nützt Dir der gefinishte WHEW, wenn das Saisonziel der TorTour deswegen nachher floppt? Dann doch lieber alle Kraft in die TorTour stecken, zusätzlich 12 Monate Vorfreude auf die vollumfängliche Teilnahme in 2019 mitnehmen. Daher Glückwünsche zu guten 67,5 km!
    Die Sound-Bikes sind klasse!
    Liebe Grüße
    Elke

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    1. Danke, ein 67-km-Trainingslauf mit Versorgung hat ja auch was.

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  3. Glückwunsch zum harten Willen des gezielten DNF und sehr viel Erfolg bei der TorTour! Nach den "Trainingsläufen" in letzter Zeit sollte das dann wohl auch klappen :-)

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  4. Das du dich tatsächlich an deine Pace Vorgaben halten kannst, finde ich ja schon mal erstaunlich. Aber das du zudem auch noch das geplante DNF kassierst, das überrascht nun wirklich :-)))
    Aber wahrscheinlich war es echt nur Furcht vor der Pulsmesserin ;-)
    Glückwunsch zur Ankunft im Schlaraffenland. Da bekomme ich ja beim Lesen Hunger.
    Liebe Grüße
    Helge

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    1. Lieber DNF als Donnerwetter von der Pulsmesserin!

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  5. Sei froh, dass du dich für die kürzere Variante entschieden hast, auch wenn es richtig gut lief, du wirst es sicherlich nicht bereuen, die Bremse gezogen zu haben hinsichtlich deines nächsten anspruchsvollen Zieles. Viel Glück dafür - aus meiner Sicht alles richtig gemacht - das kann ja nur gut werden - so gut vorbereitet - Daumen hoch !

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