Montag, 8. Mai 2017

WHEW100 2017

Werner Sonntag postulierte 1978 "Irgendwann musst du nach Biel". Damals mag das richtig gewesen sein. Mittlerweile gibt es aber den WHEW100 praktisch vor meiner Haustür. Also spare ich mir die Reise in die Schweiz und starte in Wuppertal beim 100-km-Lauf.

Morgensonne am Start

Es verspricht ein sommerlicher Tag zu werden. Die Sonne bescheint den Start-/Zielbogen, dessen Rot sich kontrastreich vom wolkenlos-blauen Himmel abhebt. Noch ist es mit 5 Grad recht frisch. Soll man die morgendliche Kühle für ein paar schnelle Kilometer nutzen? Übermotiviert starte ich den Lauf inmitten der Staffelläufer und Run&Bike-Teams, die kaum von den 100-km-Aspiranten zu unterscheiden sind. Ich lassen mich anfangs mitreißen. Das zunächst ansteigende Profil sorgt aber bald für gedrosseltes Tempo.

Soundbikes


Die Strecke verläuft vielfach auf ehemaligen Bahntrassen, die mittlerweile zu Radwegen umgewidmet wurden. Nicht dass ich besonders viele 100er zum Vergleich heranziehen könnte, aber mir scheint, dass das einen eigenen Charakter dieser Veranstaltung schafft. Denn wie bei einem Straßenlauf ist man fast nur auf Asphalt unterwegs. Andererseits führt die Route meistens durchs Grüne. Und so hat sich das Veranstalterteam um Guido Gallenkamp eine Besonderheit zur Streckenbelebung ausgedacht. Es gibt sogenannte Soundbikes. Das sind Lastenräder mit mobilen Lautsprechern, die einen beachtlichen Klang erzeugen. Sie patroullieren auf der Strecke und dienen gleichzeitig als Anprechpartner, Ersthelfer und Streckenposten. Ich finde das Klasse und bin jedes Mal enttäuscht, dass die Räder so schnell vorbeirauschen.

Höhenprofil, 25-km-Zeiten, Platzierung*

Das Höhenprofil kippt. Es geht rund 17 km hinunter ins Ruhrtal. Bei den bisherigen Austragungen bildete dieses Gefälle den finalen Anstieg, da in Gegenrichtung gelaufen wurde. Mehrfach war ich hierher gekommen, um diese fiesen End-Kilometer zu trainieren. Und dann wird kurz vorm Lauf die Richtung geändert!

Der Staffelläufer


Nach 25 km steigen frische Staffelläufer ein. Einer hängt sich an meine Fersen. Als Duo donnern wir zu Tale. Die Pace sinkt unter 5 min. Ich fühle mich großartig. Obwohl mir im Unterbewusstsein klar ist, was das hier gerade für eine Dummheit ist, setze ich die Hatz auch an der Ruhr fort. Der Staffelläufer kann das Tempo irgendwann nicht mehr halten. Ich komme mir ganz toll vor. Es steht allerdings zu befürchten, dass ich in Wirklichkeit leider ein Idiot bin.

Die Hälfte


Von all dem ahnen die Zuschauer bei km 50 nichts. Sie rufen: "Der sieht aus, als wäre er eben erst losgelaufen!" Die Zwischenzeituhr zeigt jedoch, dass der Start vor 4:16 Stunden war.

Hier am Baldeneysee ist läuferisch die Hölle los. Sämtliche Essener Lauftreffs scheinen unterwegs zu sein. Immer wieder begegnen mir große Gruppen, die mit Beifall nicht geizen. Schön!

Archivbild: Die Laufstrecke am Baldeneysee

Dann hole ich die führende Frau ein. Ihr Shirt weist sie als Bezwingerin der Radebeuler Spitzhaustreppe aus, wo erst vor zwei Wochen der Mount-Everest-Treppenmarathon stattfand. Unglaublich, dass sie heute gleich wieder 100 km abspult!

Leinpfad - Leidenspfad


Der Ruhrtalradweg führt über den historischen Leinpfad. Hier wurden früher die Schiffe von den Treidlern gezogen. Stellenweise ist sogar noch das historische Pflaster erhalten - Kopfsteinpflaster! Und "Pfad" trifft es auch. Der Radweg ist so schmal, dass der Schönwetter-Radler-Betrieb langsam nervt, obwohl immer wieder anerkennende Worte von den Pedalisten gerufen werden. Der wahre Grund für meine negative Wahrnehmung liegt in mir selbst. Ab km 60 schwinden mir die Kräfte. Am schlimmsten ist, dass ich mir die ganze Zeit vorwerfen muss, mit meinem verschärften Anfangstempo selbst schuld zu sein. Hinzu kommen Schmerzen im rechten Hüftgelenk, die bis hinunter zum Knie strahlen. Aus meinem Laufen wird zeitweise ein hinkendes Gehoppel, das immer mal wieder kurz in Gehschritten endet. Schmach, Schande! Hatte ich mir doch angesichts des eher flachen Streckenprofils vorgenommen durchzulaufen.

Die führende Frau überholt nun mich. Einziger Trost: auch sie macht Gehpausen! Wenig später zieht Simone Durry geschmeidig vorbei. Sie hat sich das Rennen offenbar besser eingeteilt und wird heute mit neuem Streckenrekord gewinnen.

Ich schaffe es nicht, mich aus meinem mentalen Loch zu ziehen, will nur noch weg aus diesem Ruhrtal und bin froh, als ich endlich abbiegen darf. Auch wenn das nun den Beginn des langen Anstiegs bedeutet.

Rettender Engel


Ich sehne mich dem VP bei km 79 entgegen, heilfroh den Rucksack nebst Trinkflasche mitgenommen zu haben, um solche "Durststrecken" zu überbrücken. Da erscheint mir ein rettender Engel! Sigrid, die dritte Frau, läuft von hinten auf.

"Gleich haben wir 80, und ab da kommen wir durch!", lautet ihre frohe Botschaft. Sigrid überträgt ihre positive Energie auf mich und zieht mich mit. Das ist Ultra!

In welche Liga mich mein morgendlicher Spurt versehentlich katapultiert hat, zeigt sich im Gespräch.

"Ich bereite mich auf die Meisterschaften im 24h-Lauf vor."
"Ach, du willst zu den Deutschen Meisterschaften nach Gotha!"
"Nein, nach Belfast. Zu den Weltmeisterschaften."

Sigrid erzählt, dass sie Mitglied im 24h-Nationalteam ist. Und sie ist sich sicher, die Qualfikationsnorm von 205 km ein weiteres Mal zu erfüllen. Ein Paradoxon: während ich vor Ehrfurcht erstarre, werde ich gleichzeitig mitgerissen. Meine Krise ist vorbei!

Du sollst laufen, nicht gehen!


Am VP versorgt sich meine Begleiterin etwas ausführlicher und delegiert mich schon mal voraus. Als ich mich anschicke,  meinen Becher (an feste Nahrung ist schon länger nicht mehr zu denken) im Gehen zu leeren, ereilt mich ein Ruf im Kasernenhofton: "Du sollst laufen, nicht gehen!" Ich gehorche brav. Sobald wir wieder ein Duo sind, kann ich die weltmeisterschaftliche Pace seltsamerweise mitlaufen.

1000 Meter Klimaanlage


Ich hatte die ganze Zeit geglaubt, dass es eigentlich gar nicht so heiß ist. Wie sehr ich unter der Temperatur gelitten habe, wird mir erst bewusst, als wir den bisher längsten Eisenbahntunnel durchqueren. Seine 1000 Meter wirken wie eine Klimaanlage. Die körperliche Erholung ist regelrecht greifbar. Sigrid spürt die Wirkung offenbar auch. Sie stimmt ein Lied an!

Die letzten vier Kilometer sind einzeln markiert. Uns gelingen nochmal Paces im Bereich zwischen fünf und sechs Minuten. Als ich gerade die achttausendste Kilokalorie verbrenne, wird Sigrid dritte Frau. Wir sind im Ziel!

Auf der vergleichsweise flachen Strecke habe ich meine bisherige 100-km-Zeit ziemlich genau um 50 Minuten verbessert und die neue Marke auf 9:37:28 gelegt. Das bedeutet heute den 14. Platz der Männer und den vierten in der Altersklasse.

Nachzielbereich

Epilog


Im Verpflegungszelt, wo sich die 100-km-Finisher sogar an den aufpreispflichtigen Gourmet-Speisen kostenlos laben dürfen, entspinnt sich folgender Dialog.

"Jetzt laufe ich mal eine ganze Woche überhaupt nicht!"
"Ob du das aushältst?"



* Quelle Höhenprofil: whew100.de

13 Kommentare:

  1. Eine Hüpfburg im Ziel :) Dafür lohnt es sich ja schon mitzulaufen, auch wenn ich mir dass mit 100km mehr oder weniger flach und auf Asphalt noch nicht ganz vorstellen kann und wahrscheinlich mich mental überfordern würde. Aber irgendwann in den nächsten Jahren werde ich es ausprobieren.

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  2. " Damals mag das richtig gewesen sein. " Da muss ich widersprechen, Biel ist Biel, und ich bin froh, dabei gewesen zu sein - eine Legende, natürlich gibt es mittlerweile viele Angebote, ABER EINMAL MUSST DU NACH BIEL - kannst es dir ja noch mal überlegen !

    Ansonsten - gut gemacht, Herr Pulsmesser, musst dich noch ein klein bisschen mehr anstrengen, dann hast du mich mit meiner 100 km Bestzeit ! Glückwunsch ! Aber um 50 Minuten das ist schon nicht von schlechten Eltern !! Wenn das nicht den Ehrgeiz weckt !!

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    1. Danke, 9:23 ist schon eine Hausnummer! Probier ich dann in Biel :-D

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  3. Wow, welch ein Rennen! Da kam aber der rettende Engel im rechten Moment. Immer wieder toll, wie einen so etwas aufbauen kann! Und - gehst Du nun auch mit nach Belfast?!
    Ganz herzliche Glückwünsche zum Durchbeißen UND DANN NOCH eine neue PB hinlegen!
    Liebe Grüße
    Elke

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  4. Einfach mal eine Woche nach einem Marathon einen 100er machen. Wahnsinn. Respekt.

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    1. Danke. Ich glaube, das das Schwierigste beim Ultralaufen ist, die richtige Balance aus Training und Regeneration zu finden. Irgendwo müssen die Trainingskilometer ja herkommen...

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  5. Einfach nur richtig cool. Der Bericht. :-) Was du so läufst, sowieso.
    ... komme mir ganz toll vor. Es steht allerdings zu befürchten, dass ich in Wirklichkeit leider ein Idiot bin.
    Ich habe mich beim Lesen schlapp gelacht :-)))
    Liebe Grüße
    Helge

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    1. Ich nehme die ganze Quälerei nur zu deiner Belustigung auf mich!

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  6. Sehr launig geschrieben, eine wahre Lesefreude :)
    Und Glückwunsch zur tollen Zeit!

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