Mittwoch, 3. Juli 2019

Kölsche Naachschicht 75 km

Nach 22 Jahren im Rheinland bin ich in der Lage zu verstehen, dass es sich bei einer Veranstaltung mit dem Namen "Kölsche Naachschicht" wohl um einen Nachtlauf in der Nähe von Köln handeln muss. Es gibt auch spezielle - „Veedels Verzäll“ genannte - Vorbereitungsläufe. Da braucht der Zugereiste allerdings Nachschlagewerke, um sich die Bedeutung zu erschließen.

Ein 171 km langer Wanderweg, der Kölnpfad, umschließt die Domstadt und kann am Veranstaltungstag komplett gelaufen werden. Außerdem ist ein 110 km langer Abschnitt als "10x11 Kölnpfad" im Angebot, und eben die Nachtvariante über 75 km.

Kölnpfad am Rhein

Ich mag Nachtläufe nicht. Denn ich brauche ewig, um das Schlafdefizit auszugleichen. Daher genieße ich die unvergleichliche Erfahrung, die Natur und den eigenen Körper zwischen den beiden Dämmerungen zu erleben, nur sehr selten. Angemeldet hatte ich mich für die "Naachschicht" vor allem deshalb, weil mein Trainingszustand momentan keine längeren Strecken zulässt. Und das erweist sich heute als regelrechter Glücksfall! Mir bleibt dadurch Laufen in tropischer Hitze und bei brutaler Sonneneinstrahlung erspart. Selbst nachts wird die Temperatur nicht unter 20 Grad fallen!

Die härteste Prüfung


Die härteste Prüfung hält der Lauf schon vor dem Start bereit: die halbstündige Fahrt im nichtklimatisierten Bus zum Startbereich! Die heiße Luft steht im Wagen. Die Sonne brezelt zum Fenster herein. Verschwitzte Leiber schmiegen sich unfreiwillig aneinander, so dass es zum Austausch von Körperflüssigkeiten kommt. Und in jeder Kurve wabert das Odeur eines anderen Leidensgenossen zur gepeinigten Nase.


Seifenblasenmaschine an VP7

Da ist die leichte Luftbewegung, die eine am Start-VP aufgestellte Seifenblasenmaschine sogar visualisiert, beim Ausstieg am Rheinufer eine wahre Wohltat. Man kann keinen Bericht über diesen Lauf schreiben, ohne die hervorragenden VP's und die aufopferungsvollen Helfer lobend zu erwähnen. Wir starten am VP7, der den Beinamen "Susanne Alexis VP" trägt. Sich so eine Benennung verdient zu haben, spricht für das Engagement der Namensgeberin. Und so wundert es nicht, dass neben der Seifenblasenmaschine noch ein Kühlwasser-Pool zur Verfügung steht. Ich nehme eine Scheibe vom bereitstehenden Brot und werde augenblicklich Fan. In der Annahme, es sei von Susanne selbstgebacken, werfe ich spontan mehrere der köstlichen Scheiben als Abendbrot ein. In Wirklichkeit werden die Brote von der lokalen Bio-Bäckerei "Ährensache" geliefert. Diese Kooperation ist Teil der umweltfreundlichen Strategie der Veranstalter, die auf Plastikbecher verzichten und kompostierbares Einweg-Geschirr benutzen.

Nach dieser noch gänzlich unverdienten Verpflegung wird tatsächlich ab 20 Uhr auch gelaufen. 75 km sind ausgeschrieben. Der GPS-Track weist eine Länge von 77,5 km aus. Und am Start steht am Boden: "Ab hier noch 78 km"! Mal sehen, wie viele Kilometer unterwegs noch dazu kommen.

Start


Sehr schnell setzt sich ein Führungsduo ab. Ich hatte die Ergebnislisten der Vorjahre mit meiner geplanten Zielzeit von unter 8 Stunden verglichen und festgestellt, dass ein Podestplatz nicht völlig unrealistisch wäre. Bei dieser Abschätzung hatte ich allerdings die Hitze nicht mit auf der Rechnung! Trotzdem halte ich mich mal strategisch hinter dem Zweiten. Der Erste zieht in einem geschätzten 5er Schnitt davon. Und auch wir sind deutlich unter einem 6er Schnitt unterwegs. Und dann geht auch noch einer vorbei!

Anstatt mal eine eigene Taktik zu verfolgen (die ich für heute überhaupt nicht vorbereitet und geplant habe - ein Fehler!), hänge ich mich an Torsten, den Überholer. Da sind Zwischenzeiten im 5er Schnitt dabei! Glücklicherweise hat er bald ein Einsehen. Er lässt sich zurückfallen und verkündet, jetzt langsamer zu laufen, um dann später zu überholen. Das ist ein realistischer Plan, so geschieht es häufig auf der langen Strecke. Ich nutze die Chance, ebenfalls das Tempo zu reduzieren, bleibe aber unter einem 6er Schnitt.

Kühlwasser-Pool

Glücklicherweise trinke ich am nächsten VP und der Zusatzwasserstelle ordentlich und nutze die Duschen, um den Kopf zu kühlen. Denn den VP09 verpasse ich! Ich laufe nämlich bisher ausschließlich nach der offiziellen Wanderwegmarkierung, die hervorragend und lückenlos ist. Insofern sehe ich keine Notwendigkeit, den Track zu benutzen. Dass es auch noch aufgesprühte Pfeile gibt, werde ich erst viel später entdecken. Blaue Pfeile auf blauem Asphalt sind nachts für mich nahezu unsichtbar.

Ich steh' im Wald


Irgendwann finde ich mich im Wald wieder und vermisse die bisher so reichhaltig vorhandenen Wanderwegzeichen. Da fällt mir ein, dass ich in einem Facebook-Forum las, dass der Königsforst aus Naturschutzgründen an der Straße umlaufen werden muss. Möglicherweise ist hier jetzt Königsforst? Nun hole ich den GPS-Receiver heraus und bemerke, dass ich tatsächlich zurück zur Straße muss.

GPS-Receiver und laminierte VP-Liste

Auf der Straße erfolgt die nächste Überraschung. Vor mir läuft der Führende! Kurze Zeit später bilden wir ein Duo und begeben uns gemeinsam auf die Suche nach den blauen Pfeilen. Zwei Tracks und vier Augen ergeben eine sehr gute Navigation.

Der Fehler


Am VP10 mache ich einen schweren Fehler. Ich "exe" eine Flasche "Früh Sport". Mein Durst lässt sich mit reinem Wasser nicht mehr löschen. Alle anderen Getränke, die mir auffallen, sind kohlensäurehaltig. So auch das alkoholfreie Kölsch. Die Kohlensäure der Apfelschorle in meiner Softflask kann ich nach einigen Schritten pfeifend ablassen. Die in meinem Bauch möchte gern ebenso entweichen. Kurz: ich bekomme Magenprobleme. Meinem Kompagnon geht es ähnlich. Begeistert entdecken wir, dass VP11 Kamillentee ausschenkt. Das Zeug ist eine Wohltat! Wer hätte gedacht, dass bei der Hitze warmer Tee so gut tun würde!

Schwindel


Während mein Begleiter geheilt und erquickt das Tempo hoch hält, werden meine Probleme größer. Dass der Magen rebelliert, wenn man lange Strecken zu schnell angeht, ist ja nichts Neues. Aber bei km 58 wird mir plötzlich schwindlig. Der Kopf kommt mit der Hitze nicht mehr klar. Ich habe das Gefühl, den Schädel dringend kühlen zu müssen. Der Mund ist so trocken, dass das Öffnen der Lippen fast schon schmerzt. Die Kehle will trinken, aber der Bauch signalisiert Völle. Ich falle ins Gehen!

Ich brauche jetzt 10 Minuten für einen Kilometer! Das darf ich gar nicht bis ins Ziel hochrechnen. Immer wieder versuche ich anzulaufen. Es führt nur zu einem unwürdigen Gehoppel für ein paar wenige Schritte. Ich warte darauf, dass jeden Moment Torsten seine Prophezeiung wahr werden lässt und vorbeiläuft. Und so kommt es natürlich auch. Kopf, Bauch, Beine, Füße, Achillessehne. Alles tut weh. Erstmals in einem Rennen denke ich ans Aufgeben. Als an der Straße ein Taxi vorbeifährt, bräuchte ich nur den Arm zu heben. Lediglich die Aussicht auf einen Podestplatz lässt mich durchhalten. Immer wieder muss ich an die Läufer denken, die die komplette Strecke absolvieren und am Tage viel größerer Hitze zu trotzen haben. Mein ganzer Fokus und alle Hoffnung richten sich jetzt auf den letzten VP.

Auferstehung


Dort kann ich mir endlich Wasser über den Kopf schütten! Verwundert bemerke ich, dass meine Trinkblase noch so gut wie voll ist. Auch auf den letzten 11 Kilometern werde ich kaum noch etwas trinken. Die Phase der Demoralisierung ist schlagartig vorüber. Liegt es an der Kühlung des Kopfes oder an der Energie aus den gesalzenen Kartoffeln? Egal, ich laufe wieder! Es fühlt sich an wie ein 6er Schnitt. Die Uhr holt mich in die Wirklichkeit zurück: 7:30 min/km. Auch erhöhte Anstrengung führt nach dem nächsten Kilometer zum gleichen Ergebnis. Erst als die Restkilometer einstellig werden, zeigt meine neue Devise Wirkung: "Auf keinen Fall mehr die Platzierung einbüßen!" Jeder Kilometer wird jetzt schneller. Das Tempo steigert sich von 6:30 bis 5:25 min/km. Ich brülle mir wütend die Anstrengung aus dem Leib. Aber das fühlt sich wieder nach Laufen an. Der Kadaver lebt! Die letzte VP-Besatzung hatte es vorhergesagt: "Die Freude kommt zum Schluss wieder zu dir zurück!"

Und so kriege ich doch noch ein Lächeln für das Zielfoto zustande, das nach 8:46:54 Laufzeit von mir gemacht wird.

Kacheln an Keks

PS: Die Fenix3 hat 78,23 km gemessen.

10 Kommentare:

  1. Wow, was ein Brett. Gerade bei diesen Bedingungen. Da möchte ich auch garnicht erst an die lange Strecke denken müssen

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  2. Unglaublich! Diese Strecke bei diesen Temperaturen. Respekt! Und dann noch den 3. Platz. Du bist schon echt ne Granate.
    Ich bin ja auch kein Nachtmensch, aber bei den Temperaturen des letzten Wochenendes würde ich wohl auch lieber Nachts unterwegs sein als tagsüber :-)
    Und deine Beschreibung der "härtesten Prüfung" ist einfach grandios :-))))
    Ich hatte das das Odeur des ein oder anderen Mitfahrers quasi in der nase beim Lesen ;-)
    Herzlichen Glückwunsch zum super Ergebnis
    Liebe Grüße
    Helge

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    1. Danke, Helge! Wenn man bedenkt, dass das die Standardbeförderung in vielen Gegenden der Welt ist ...

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  3. Krass. Ich hab echt mitgelitten beim Lesen. Niemals beim Rennen etwas essen oder trinken, was vorher nicht getestet wurde... naja, leicht gesagt bei diesem Durstgefühl das kaum zu stillen ist.
    Respekt und großen Glückwunsch zum Durchhalten und den verdienten Podestplatz!

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    1. Vielen Dank, Oliver!
      Wenn der Durst so groß ist, ist das bei mir bereits ein akutes Erschöpfungszeichen. Die Magenprobleme sind sicher auch zu einem großen Teil der Belastung geschuldet.

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  4. Jesses! Tiefrespektierende Glückwünsche zum Finish bei diesen Bedingungen! Dass Du Deinen Magen wieder in die Spur gebracht hast, beeindruckt mich, da übe ich immer noch. Über Deine kleine Tiefstapelei, dass Dein Trainingszustand gerade nicht mehr als 75 km zulässt, schaue ich da mal hinweg...
    An der Volldistanz haben sich 2 Bekannte versucht, beide mussten hitzebedingt aussteigen..., also richtige Entscheidung, in der Nacht zu laufen!
    Gute Erholung und liebe Grüße
    Elke

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    1. Danke, Dir, Eilke!
      Naja, vor einem guten Jahr bin ich solche Distanzen im Training gelaufen. Davon bin ich momentan weit entfernt.
      Die Magen- und sonstige Körperberuhigung hat mich 8 km des Wanderns gekostet. Ist also kein wirklich empfehlenswertes Mittel ;-)

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  5. Ja holldrio, was für ein Lauf. Gratuliere zum Finish - und sei froh, dass du die Puste für die Seifenblasen nicht selbst erzeugen musstest.

    Ciao,
    Harald

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    1. Danke! Das wäre vor dem Start gewesen, da hätte das evtl. noch geklappt ;-)

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