Sonntag, 31. März 2019

Diagnose Herzinfarkt

In Sportlerkreisen wird oft als Motivation für tägliches Training angegeben: "Wenn ich mal alt bin, möchte ich mir noch allein die Schuhe zubinden können!" Mir gelingt das bereits heute Morgen nicht mehr! Ich kann mich einfach nicht zu den Füßen hinunterbeugen.


Ich schlüpfe im Stehen in mein Schuhwerk und bitte die Pulsmesserin, mir die Schnürsenkel zu binden. "Willst du denn überhaupt zur Arbeit gehen?", gibt sie zu bedenken. Im Nachhinein betrachtet, wäre hier ein guter Moment gewesen, um den weiteren Verlauf in andere Bahnen zu lenken. Doch ich setze meinen Weg unbeirrt fort. Nur um an der nächsten Station endgültig zu scheitern.

In der Garage will ich mir aufgrund der Wettersituation noch die Gamaschen anlegen, bevor ich mich auf das Fahrrad schwinge. Beim gleichzeitigen Heben des Beines und Vorbeugen des Oberkörpers schießt mir ein nahezu unerträglicher Schmerz in die Lendenwirbelsäule. Schreiend und heulend kämpfe ich mich über die Terrasse zurück ins Haus. Mit eingeknickten Knien und leicht nach vorn gebeugt stütze ich mein Körpergewicht mit den Händen auf einer Stuhllehne ab. In dieser Position ist die Pein irgendwie auszuhalten. Aber nur in dieser. Jede Veränderung bringt das Schreien und Heulen zurück.

Es ist Glück im Unglück, dass meine Frau heute zufällig noch im Haus ist. Sie ruft eine Ärztin aus dem Familienkreis an. Die diagnostiziert fernmündlich eine Blockade der Lendenwirbelsäule. Wir sollen den Notruf wählen, damit ich umgehend eine Schmerzmittelspritze erhalte, um so aus der Situation herauszukommen.

Ab jetzt bin ich nur noch Objekt. Die Dinge nehmen ihren Lauf. Mein Frau wählt 112. Nach rund zehn Minuten im Armstütz auf der Stuhllehne verheißt der Klang eines Martinshorns Rettung. Drei junge Männer betreten den Raum. Die Krankentrage haben sie vor der Haustür stehen lassen. Und dorthin soll ich ihrer Meinung nach nun zu Fuß gehen. Mir ist aber nach wie vor keine Positionsveränderung möglich. "Ah, da brauchen wir ein Schmerzmittel! Das können wir aber nicht verabreichen. Das darf nur ein Arzt." Sie telefonieren. Mir schwinden langsam Kräfte.

Meine drei Retter wollen mir inzwischen eine Infusion legen, und zwar über einen  Zugang in der linken Hand. Diese soll ich ihnen reichen. Ich balanciere nun also mein Körpergewicht mit nur noch einer Hand auf der Stuhllehne. Dazu diese wahnsinnigen Schmerzen im Rücken. Meinem Körper wird das jetzt ein bisschen viel. Er fängt an, alle überflüssigen Systeme herunterzufahren. Ich sehe nur noch sehr unscharf. Mir bricht der kalte Schweiß aus. Ich habe plötzlich wahnsinnigen Durst. Mir wird schwummerig. Ich sacke nach hinten und finde mich auf der Fensterbank sitzend wieder. Die Schmerzen haben deutlich nachgelassen.

Währenddessen ist die Notärztin hereinkommen und hat erlebt, wie ich kreidebleich kollabierte. Sie lässt sofort ein EKG anschließen. Die drei Rettungsassistenten drapieren jede Menge Sensoren an meinem Oberkörper und an einem Finger. Irgendwo steckt jetzt auch die Infusion drin. Ständig verfitzen die Jungs die Schläuche und Kabel. Ein Drucker rattert. Das EKG sieht offenbar besorgniserregend aus. Die Ärztin kontrolliert den Sitz der Sensoren und bittet die jungen Männer um Korrektur. Es rattert wieder. Nun sehen die Herzwerte offenbar gleich viel besser aus! Aber ein Parameter scheint die Frau noch immer zu beunruhigen.

Inzwischen kann ich wieder scharf sehen. "Wir freuen uns immer, wenn der Patient die Augen wieder aufmacht.", meint die Ärztin. "Herz sticht Rücken", fügt sie hinzu. Ich werde nicht in die nahe orthopädische Klinik, sondern in die etwas weiter entfernte kardiologische Klinik gebracht. Den Weg zu Bahre kann ich, mit beiden Händen auf die Schultern meiner Frau(!) gestützt, aus eigener Kraft zurücklegen. Meine drei Helden trotten hinterdrein.

In der Notaufnahme bekomme ich dann doch noch ein Schmerzmittel. "Wie stark sind ihre Schmerzen auf einer Skale von 0 bis 10, wenn 10 'Vor Schmerzen aus dem Fenster springen' bedeutet?"
"Jetzt, wenn ich hier so unbewegt liege, 3. Aber heute Morgen waren es 9!"
"Derart starke Schmerzen können auch Ihre Symptome hervorgerufen haben, es muss kein Herzinfarkt sein."

Doch dann werde ich untersucht. "Ihre rechte Herzhälfte schlägt gar nicht richtig mit. Und die Cava ist weit geöffnet! Die muss sich aber bei jedem Atemzug öffnen und schließen. Wir müssen eine gründliche Ultraschalluntersuchung ihres Herzens durchführen. Das kann nicht sofort erfolgen. Sie können so lange ins Wartezimmer der Notfall-Ambulanz. Das ist noch ganz leer."

Gegen 8:30 Uhr schiebt man mich in einem Rollstuhl in das Wartezimmer. Im Laufe der nächsten Stunden füllt es sich immer mehr. Glücklicherweise habe ich gefrühstückt. So ohne Geld und bewegungsunfähig direkt gegenüber der Cafeteria zu sitzen, macht auf  Dauer doch etwas mürbe. Dann kommt eine Schwester auf mich zu. Ich wähne mich schon auf dem Weg zur Untersuchung. Da herrscht sie mich an, dass sie keine Rollstühle mehr haben, und ich mich doch auf einen normalen Stuhl setzen solle.

So einfühlsam motiviert, schaffe ich es tatsächlich, mich ächzend auf einen Stuhl zu manövrieren. Als ein paar Stunden später der Harndrang zu groß wird, erinnere ich mich an diese Leistung und wage den Aufbruch zur Toilette. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein paar schmerzhafte Schritte für mich. Es sieht sicher auch nicht schön aus, wie ich da gekrümmt über den Flur schlurfe. Aber zumindest bekomme ich einen Überblick über die Lage. Ringsum nur geschlossene Türen! Kein Personal, das man ansprechen könnte.

Meine große Stunde schlägt um 13:50 Uhr. Ich werde auf eine Station geschoben, wo man mich auf dem Flur abstellt. Ich richte mich gerade innerlich darauf ein, hier die Nacht zu verbringen, da werde ich zur Untersuchung gebeten. Immerhin schaffe ich es inzwischen bereits aus eigener Kraft auf die Liege. "Bei einem austrainierten Sportler kann das Herz schon so aussehen. Ihr Herz ist völlig gesund." Als ob ich daran gezweifelt hätte! Aber was ist jetzt eigentlich mit meinem Rücken?

Man karrt mich zurück in die Notaufnahme. Der Arzt vom Morgen meint: "Vergessen Sie alles, was ich heute Früh gesagt habe. Sie wurden jetzt von einer sehr erfahrenen Oberärztin untersucht. Ihr Herz ist in Ordnung. 
Da Sie Ihre Beine spüren können, kann ich hier in der Notaufnahme nicht mehr für Sie tun, als Ihnen ein Taxi zu rufen. Suchen Sie bei Gelegenheit einen Orthopäden auf."

Der Besuch dort ist zwar deutlich kürzer, aber kaum ergiebiger. Immerhin erhalte ich eine Diagnose. Blockade des Ischio-Sakral-Gelenks. Ich werde entlassen mit den Worten: "Kann jederzeit wieder auftreten, vielleicht auch nie mehr."



Nachtrag: Fast drei Wochen Abstand haben mich in die Lage versetzt, dem Erlebnis seine komische Seite abzugewinnen. Inzwischen nähert sich der Rücken einem beschwerdefreien Zustand an. Vor allem aber, ich laufe wieder!

10 Kommentare:

  1. Ohje! Du machst Sachen!
    Zu Beginn habe ich gehofft es ist entweder n Aprilscherz oder n Traum, aber beides wohl leider nicht. Pass auf dich auf!

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Nein, ist ja schon eine Weile her. Musste es erst verarbeiten ;-)

      Löschen
  2. Also das ist kein Aprilscherz...?! Dann könnte man ja noch drüber lachen. Aber wenn nicht, war das ja eine harte Nummer für Dich!
    Wenn Du i nzwischen wieder läufst, scheint es ja wieder besser zu sein, außer, du ziehst die alte Indianernummer durch. Aber auf alle Fälle wünsche ich Dir gute und restlose Wiederherstellung der Gesundheit.
    Was die Erfahrung mit dem deutschen Gesundheitssystem angeht, so etwas möchte man ja aber gar nicht erleben. Mit solchem Verdacht stundenlang abgeschoben, das will man sich nicht ausmalen, das kann lebensgefährlich werden! Habe ich auch mal erlebt. Mit akutem Blinddarm morgens von der Hausärztin per Krankenwagen ins Krankenhaus, und da bis abends liegen gelassen. da war der Übeltäter dann geplatzt.
    So etwas macht einem fast noch mehr Sorgen, als Krankheiten selber, dass man an solch inkompetente Menschen und Systeme gerät.
    Halt die Ohren steif, dass das so bald nicht nochmal vorkommt!
    Liebe Grüße
    Elke

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Momentan ist wohl ein wenig der Wurm drin. Blöderweise sind das alles Dinge, gegen die man sich nicht noch weiter wappnen kann.

      Löschen
  3. Zum Glück steht da ein Nachtrag drunter, du läufst wieder, das ist eine gute und beruhigende Nachricht.
    Ansonsten: kleine Horrorstory die man nicht erleben möchte. Jeder hat mal Rückenschmerzen, auch üble, aber das Erlebte (9 auf der Skala) ist dann eine ganz andere Nummer. Dazu noch diese nervenaufreibende Odyssee durch unser Gesundheitssystem (das ich per se nicht schlecht machen möchte, aber es hat seine Tücken), da kann man sich schon mal wie ein Schiffsbrüchiger fühlen.
    Gute Besserung weiterhin und pass vorerst noch auf den Rücken auf.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Wir haben das beste Gesundheitssystem der Welt, solange du nicht krank wirst ;-)

      Löschen
  4. des datums geschuldet dachte ich zunächs an einen scherz! aber der bericht ist von gestern daher auf diesem wege alles erdenklich gute und weiterhin gute besserung!!!
    gruß
    dirk

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Danke Dirk, es wird schon. Man kann ja nicht ewig in der Furcht leben, dass es wieder passiert.

      Löschen
  5. Oh weh oh weh!!! Was ein Horror. Da kann ich mir gut vorstellen, dass du erstmal ne Weile dran verdauen musstest bevor du darüber berichten kannst.
    Interessant ist, dass man bei Verdacht auf Herzinfarkt für Stunden ins Wartezimmer gesetzt wird :-|
    Gut ist dein Nachtrag. Gut, dass du wieder läufst und dann drücke ich dir die Daumen, dass du das nie nie nie wieder erlebst :-)
    Liebe Grüße
    Helge

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Danke dir, Helge. An der Aussage "kann jederzeit wieder passieren" hatte ich zunächst zu verdauen.

      Löschen